Predigt im Gottesdienst am Sonntag, 16. Februar 2025, von Werner Busch.
Texte: Prediger/Kohelet 7 und Jeremia 9
„Gib dich nicht allzu gerecht.
Sei nicht allzu weise.
Denn warum willst du dich selbst zugrundrichten?“
Der Klavierkabarettist, Liedermacher, Entertainer William Wahl erzählt folgende kleine Begebenheit. Es ist „eine Bahngeschichte“, kürzlich erlebt, ich zitiere ihn wörtlich aus den sozialen Medien[1]: „Mit meiner BahnBonus-App löse ich im Bordbistro ein Freigetränk ein. Ich entscheide mich für einen Café Crème und bitte um einen Schuss Milch aus der neben dem Automaten stehenden Packung.
Ich dürfe nur Kaffeesahne nehmen, sagt der Kellner. Milch sei ausschließlich für die Kunden, die Milchkaffee bestellen. In dem ist mir zu viel Milch drin, sage ich, ich hätte gern nur einen kleinen Schuss davon. Kann er nicht machen, sagt er, extra Milch gebe es, wie gesagt, nur für Kunden, die auch Milchkaffee kaufen. Es ist doch ein Freigetränk, sage ich, ich DÜRFE ja genauso einen Milchkaffee bestellen; ich wolle mir ja nichts erschleichen, nur halt weniger Milch, daher nur einen Schuss. Seine Antwort: Vorschrift ist Vorschrift.“
„Gib dich nicht allzu gerecht.
Sei nicht allzu weise.
Denn warum willst du dich selbst zugrundrichten?“
Nun ist die Prinzipienreiterei des Kellners gewiss nicht seine persönliche Erfindung. Die Deutsche Bahn wird auch nicht daran zugrunde gehen, dass ein Mitarbeiter – oder sein Vorgesetzter – die Anweisungen höchstwörtlich auslegt und in reinster Konsequenz nur dem Buchstaben folgt. Es geht hier ja schließlich nur um einen Milchkaffee. Die Banalität macht die Geschichte so unterhaltsam. Aber das zugrundeliegende Denken gibt dieser kleinen Bahngeschichte trotzdem eine bittere Note. Da ist ein Störgefühl, ein Unbehagen. So wollen wir doch eigentlich nicht leben. So wollen wir doch eigentlich nicht miteinander umgehen. Was im Gesetz nicht ausdrücklich erlaubt wird, betrachten wir als verboten. So geht es nicht. Wo kämen wir hin,
wenn das überall so gelten würde? Welche Engherzigkeit würde uns das aufzwingen? Welche Autoritätsgläubigkeit müssten wir uns angewöhnen, wenn das die Lebensmaxime wäre: „Vorschrift ist Vorschrift“, und was nicht extra erlaubt wird, ist eben verboten.
„Gib dich nicht allzu gerecht.
Sei nicht allzu weise.
Denn warum willst du dich selbst zugrundrichten?“
Unsere Kirche hatte noch vor wenigen Jahrzehnten ganz andere Regeln als heute. Konfessionsverschiedene Ehen waren zwar nicht unmöglich, aber ein Problem. Da fuhr die Kirchenadministration zu Höchstleistungen hoch. Ausnahmegenehmigung, Formulare, ernste Gespräche. Die Taufe von Kindern,
bei denen ein Elternteil nicht in der Kirche war – schwierig. Auch: große Ausnahme. Und eine evangelische Trauerfeier für jemanden, der aus der Kirche ausgetreten war – nicht akzeptabel. Selber schuld.
„Gib dich nicht allzu gerecht.
Sei nicht allzu weise.
Denn warum willst du dich selbst zugrundrichten?“
Im Buch des Propheten Jeremia wird daran erinnert, dass unsere menschlichen Urteile stets mit Vorsicht zu genießen sind. Je rigoroser, kompromissloser ein Mensch auftritt, umso wackeliger eigentlich seine Position.
Der erste Schein trügt. In den prophetisch und weisheitlich geschulten Augen der hebräischen Bibel sehen die Dinge anders aus. „Wer sich rühmen will, rühme sich dessen, zu begreifen und mich zu kennen und zu wissen, dass ich der Ewige bin und dass ich Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übe auf Erden.“
Sie kennen die Redeweise: Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir Menschen erkennen und begreifen können. Das prophetische Wort lenkt aber den Blick nicht in den Himmel, noch oben. Das prophetische Wort schaut auf die Erde, in die Zwischenräume zwischen uns Menschen. DA ist Gott anesend. Da ist er am Werk. „Schau dir an die Werke Gottes.“ Ja, tun wir das: hinschauen.
Unsere Wasserstraßen, die künstlichen Kanäle verlaufen schnurstracks, konsequent, geradlinig. Sie sind effizient, alles planiert. Aber die Flüsse, Gottes Wasserwege verlaufen in Biegungen. Manchmal fließen sie auf Klippen zu, stürzen als Wasserfall in die Tiefe, sammeln sich neu und fließen weiter.
Schau dir an die Werke Gottes! Er hat Freude an ihnen, aber da ist alles krumm. Kaum etwas ist abgezirkelt. Am Ende des biblischen Schöpfungsberichtes steht:
„Siehe, es war sehr gut.“ Aber „sehr gut“ heißt ja nicht „sehr einfach“. Da ist fast nichts rigoros, puristisch, geradlinig.
In unserer Gesellschaft pulsiert seit einiger Zeit das Bedürfnis nach Klarheit. Viele Menschen hätten gerne eindeutige Lösungen. Da ist viel Unerbittlichkeit unterwegs. Nicht wenige träumen von „Hauruck“-Entscheidungen. Es soll doch endlich mal durchgegriffen werden. So geht es nicht weiter, denn die bisherige Ordnungen führen uns Chaos. Auch in manchen Reformüberlegungen in unserer Kirche wirkt dieser Impuls, dieser Sichtweise. „Das kirchliche Leben in seiner bisherigen Form kommt an ein Ende.“ Also müssen wir jetzt eine neue Ordnung, eine neue Gestaltung schaffen. Man verspricht sich von einer strukturellen Radikalkur neue Stabilität und Zukunftsfähigkeit. Doch hinter dieser Verlockung des Autoritären steht ein Perfektionismus, der nicht zur Welt passt. Er passt auch nicht zum Leben, schon gar nicht zu uns selbst.
Passt dieser Liniel-Perfektionismus zu Gott, zur Kirche? Schau dir doch die Werke Gottes an! Alles komplex. Alles verwoben und uneben, krumm. „Du weißt nicht, was als Nächstes kommt“, sagt der Prediger (Koh 7).
Wenn sich jemand also rühmen will, mischt sich eine Stimme aus dem Buch Jeremia ein, wenn jemand also etwas Starkes und Großes braucht, um sich daran aufzurichten: Rühmt euch, mich zu kennen, spricht der Herr. Pflegt den Glauben, dass ich auf meine Weise Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übe.“ (Jer 9)
Das kriegen wir Menschen ganz schlecht hin: Recht und Barmherzigkeit miteinander zu vereinen. Die einen sind lieber großzügig, weitherzig und achten dabei zu wenig auf sich selbst. Sie beuten sich selber aus und schaden ihrer Seele. Andere neigen dazu, alles nach geltenden Grundsätzen und Prinzipien zu handhaben, wie der Milchkaffee-Kellner im Bordbistro. Wenn solche Gegensätze aufeinanderprallen, gilt es als salomonisch, wenn es gelingt, beides miteinander zu verbinden. Diese klugen, versöhnlichen Lösungen, in denen widerstreitende Interessen ausgeglichen werden – das ist die Weisheit Salomos gewesen. Ordnungen zu schaffen, die nicht knechten, sondern in denen Seelen aufblühen und gedeihen können, Gesetze zu beschließen, die dem Frieden dienen – das ist der Kompass im Alten Testament. Regeln setzen, die gut tun und Menschen in ihren Beziehungen gerecht werden. So etwas gefällt mir, spricht Gott.
Unser Land ringt gerade um eine Balance zwischen scharfen Gegensätzen.
Die Gesellschaft driftet auseinander. Unser Land ringt gerade um einen Ausgleich zwischen Ordnung und Würde. Zwischen klarer Kante und Kompromissbereitschaft. Zwischen Kriegstüchtigkeit und Verhandlungsfähigkeit. Am kommenden Sonntag werden wir mit unserer Stimmabgabe entscheiden, wohin wir neigen. Wir bleiben in menschlichen Grenzen gefangen, denn wir können nicht so gut, was Gott kann: Recht UND Barmherzigkeit miteinander versöhnen, Gerechtigkeit und Liebe zu verschmelzen. Schon im Alten Israel wusste man, dass das eine Gottesgabe und ein Gotteswerk ist, wenn der Ausgleich glücklich gelingt. „Doch ist ja Gottes Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, damit in unserm Lande Ehre wohne;  wenn Güte und Treue einander begegnen, wenn Gerechtigkeit und Friede sich küssen; 
wenn Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue; wenn der HERR auch uns Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe.“ (Ps 85) 
Er tut auf seine Weise, was wir nicht gut können. Schaut die Werke des Herrn an! Hier: Einen Gekreuzigten stellt er uns als seinen Sohn vor. Als ausgestreckte Hand, die bis in die dunkelsten Tiefen hinabreicht und herausrettet. Greif zu und „gib dich nicht allzu gerecht. Sei nicht allzu weise“ und nicht zu stolz dafür. „Denn warum willst du dich selbst zugrundrichten“ und diese helfende Hand nicht nehmen?
Zuletzt dies: Sie kennen vielleicht den Mittelweg hier in Braunschweig. Er liegt ganz am Rand unseres Gemeindebezirks, also nicht in der Mitte, nicht in der Komfortzone. Nicht im Zentrum, wo alles Wichtige: Markt, Verkehr, Geschäfte, Kirche. Der Mittelweg liegt an der Peripherie. Er verläuft zwischen Bültenweg/Bienroder Weg (rechts) und Hamburger Straße (links). Das sind die alten großen Ausfallstraßen, die weit hinaus- und von ferne in sie hineinführen. Irgendwann in 1860er Jahren schuf man aber den Mittelweg, der zwischen den großen Hauptwegen verlaufen sollte. Die Hamburger Str. und der Bültenweg führen heraus, sie führen vorbei. Er lässt nicht alles links und rechts liegen. Hauptsache die große Richtung.
Ob da Häuser und Menschen am Wegesrand einen Stopp brauchen, ist auf solchen Strecken egal. Es geht um die großen Linien. Der Mittelweg verläuft zwar ungefähr in der gleichen Richtung, hat aber eine andere Aufgabe. Er geht direkt in das Siegfriedviertel hinein. Er verbindet Wohngebiete miteinander. Er verbindet Menschen miteinander.
Darf ich das so ohne Umschweife auf den Glauben und auf unser Leben übertragen? Gottes Wege führen nicht an allem vorbei, was uns aufhalten könnte. Gottes Wege sind keine Umgehungsstraßen. Sondern er führt in alles hinein und durch alles hindurch. Der Weg zwischen Jericho und Jerusalem ist ein Menschenweg, ein Mittelweg. Schau genau hin, wen du da triffst und wohin er dich führt. Noch einmal das andere Bild: Das Schiff, das sich Gemeinde nennt, fährt nicht auf künstlichen Kanälen, wo die Dinge einfach, begradigt und straight sind. Die Gemeinde schippert auf natürlichen Flüssen durch die Zeit. Diese Flüsse haben Sandbänke, Stromschnellen, Biegungen, Zuläufe, Engstellen. „Du weißt nicht, was als Nächstes kommt.“ (Pred 7)
Wenn ihr auf etwas stolz sein wollt, dann nicht darüber, dass alles klappt, alles glatt läuft. Vorsichtig mit dem Verliebtsein ins Gelingen! Wenn ihr euch an etwas aufrichten möchtet, ruft es aus dem Prophetenbuch zu uns herüber, dann daran: Seid froh, dass ihr mich kennt. Macht das zu eurem Rückgrat, dass ihr begreift, ich begradige nichts. Spruch des Herrn. Das wilde Leben und die widerstrebenden Kräfte, das Ungezähmte sind mein liebstes Element. Dort zu wirken, zu schaffen, zu führen, zu retten,
das kann ich am besten. Besser als ihr alle zusammen.“ Amen.
[1] https://www.facebook.com/share/p/1Bu2ZzfCpT/ .