Anstößige Kirche

  • Ein Beitrag von Werner Busch, April 2019

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1. Ins Dunkle blicken

In der Passionszeit haben wir auf die ernsten Themen unseres Glaubens geblickt. Christus am Kreuz. “Für uns Menschen und zu unserm Heil”.[1] Daneben steht das ganz unheilvolle Leiden derjenigen Menschen, die von kirchlichen Mitarbeitern Gewalt und Missbrauch erlitten haben. Die Aufmerksamkeit für dieses Thema ist schon seit Jahren hoch. Eingehende theologische Äußerungen dazu, soweit ich sie in den Medien wahrgenommen haben, gibt es derzeit nur in übersichtlicher Zahl.

Zuerst muss das aus einem menschlichen Blickwinkel betrachtet werden. Betroffene müssen geschützt und gestärkt werden, mit juristischen und anderen Mitteln. Wenn ich mir vorzustellen versuche, was es bedeutet, von Gewalt und Missbrauch in der Kirche persönlich betroffen zu sein, wird mir klar: Der Mut der Betroffenen, die Wahrheit aufzudecken, besteht in dem höchstpersönlichen Outing, selber Opfer solcher die Personwürde verletzenden Taten geworden zu sein. Ihren Aufklärungsmut muss man ehren und unterstützen. Nur so kommt die Wahrheit ans Licht. Von daher finde ich es richtig, dass die EKD-Synode im November 2018 eine Summe von 1,3 Millionen Euro bereitgestellt hat, um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in ihren Einrichtungen professionell voranzubringen.[2] Damit ist unmissverständlich klar gemacht. Gewalt und Missbrauch sind auch im evangelischen Sektor eine Tatsache im vollen Wortsinn, der wir uns stellen müssen. Mit Hilfe von Fachleuten Wahrheit und Menschlichkeit schützen.

Da Kirche mit Theologie geleitet wird, gehört zu diesem menschlichen Blickwinkel auch die theologische Reflexion hinzu. Immerhin haben kirchliche Verkündiger und Seelsorger solche Taten verübt. Dieser Selbstwiderspruch ist tief und in ihm liegt ein heftig pochendes geistliches Problem für die Kirchen. Was bedeuten diese Vorkommnisse für die Kirchen und für den Glauben, der in ihnen gelebt wird?

In jüngster Zeit hat es auf katholischer Seite zwei prominente Stimmen gegeben. Theologische Diagnosen sind vorgelegt worden. Papst em. Benedikt XVI [3] und der bekannte Theologe und Psychoanalytiker Prof. Dr. Eugen Drewermann.[4] Insbesondere der Aufsatz von Benedikt hat – ungewollt – gezeigt, dass es zwei sehr verschiedene Blickwinkel von sehr unterschiedlicher Qualität gibt. Es ist eine Sache, wenn man angesichts der Täter aus den eigenen Reihen sich von der Zerstörung eines heilen oder heiligen Selbstbildes betroffen fühlt. Es ist eine andere, wenn man vom Leiden der Misshandelten direkt erschüttert wird. Ich meine den Unterschied zwischen Mitgefühl und Selbstmitleid.

 

2. Wegsehen statt (zu)hören oder:
Der Fluchtweg in die Entweltlichung

Benedikt spricht von einer “schweren Stunde” für die Kirche, aber er erwähnt die misshandelten Menschen in seinem über 6000-Wörter-Text kaum. Es geht ihm primär um die Kirche und den Glauben. Die Ursachen und Hintergründe für die Taten sucht er in einem “allgemeinen gesamtgesellschaftlichen Kontext”. Dort hat es angefangen. Dort diagnostiziert er einen Zusammenhang zwischen sexueller Befreiung, seelischen Zusammenbruch und Gewaltbereitschaft. In dieser unheiligen Trias liegt für ihn DIE Versuchung durch die 68er. Dieser Versuchung seien Priesterkandidaten erlegen in einer Zeit, in der die katholischen Moraltheologie dem nicht gewachsen gewesen sei. So weit seine Beschreibung. Sie verwischt m.E. bereits den Unterschied zwischen Ursachenforschung und Schuldfragen.

Benedikt bewertet das Problem nun folgendermaßen: Durch pädophile Straftaten von Priestern werde “letztlich der Glaube beschädigt”. Mit diesem Abstraktum “Glaube” meint er die spirituelle Integrität der Kirche. Sie soll jetzt vom Lehramt wiederhergestellt werden. Das Heilmittel kommt aus dem Arznei-Regal mit der Aufschrift “Entweltlichung”. Der Klerus soll wieder intellektuelle und lebenspraktische Distanz zu den Versuchungen des normalen Lebens aufbauen und halten.

Ist es anmaßend, dem eine Frage aus der prophetischen Tradition entgegenzustellen? “Warum zertretet ihr mein Volk und zerschlagt das Angesicht der Elenden?, spricht Gott.” (Jesaja 3,15) Ich zitiere den Propheten ohne Furor, ohne Überhebung. Denn für beides haben wir Evangelischen in dieser Sache keinen Anlass. Dieses Wort spricht auch in unsere Richtung. Es zeigt auf wunde Punkte. Ein blinder Fleck entsteht dort, wo man vor lauter Selbstbetroffenheit die Misshandelten aus dem Blick verliert. Dann wird es schief und es entsteht der Eindruck, dass man die Glaubwürdigkeit einer Kirche verteidigen will, in der Kindheiten zerstört wurden. [5]

Mir mutet es unheimlich an, wenn Benedikt zur Widerlegung der 68er die Lehrmeinung hochhält, “daß es Handlungen gebe, die nie gut werden können”. Mit pastoraler Milde vorgetragene Unerbittlichkeit, die zuerst wohl überlegt und klar anmutet. Doch mir kommt es so vor, dass diese Zeilen etwas ungewollt Doppelbödigiges, Untergründiges haben. Wie von anderswoher schiebt sich ein Subtext zwischen die Zeilen und bemächtigt sich seiner Worte. Er zeigt auf die Taten von kirchlichen Amtsträgern, die nie gut werden können. Das ist eine massive Herausforderung an jede Amts-Theologie. Aber dazu sagt Benedikt nichts. Musste die altkirchliche Zurückweisung der donatistischen Irrlehre [6] das pastorale Gewissen wirklich so weit abstumpfen lassen? Dieser Subtext, diese zweite Tonspur unter seinem eigenen Worten widerspricht ihm selbst auf eine Weise und  mit einer stillen Wucht, zu der kein noch so empört oder pathetisch vorgebrachter Widerspruch fähig wäre. Um es theologisch/geistlich auszudrücken: Ich glaube, dass Christus gerade versucht, öffentlich mit seinen brutal gewordenen Kirchen zu reden. “Warum zertretet ihr mein Volk und zerschlagt das Angesicht der Elenden?” Noch einmal: Das ist kein spezielles Konfessionsproblem, sondern eine Frage an die Christenheit.

 

3. Das Wundermittel der Empathie oder:
Die Verabsolutierung des psychotherapeutischen Blickwinkels

Eugen Drewermanns Bewertung verläuft auf anderen Denk-Wegen [7] als denen von Benedikt und er kommt auch zu anderen Schlussfolgerungen. Die im gerade zitierten Prophetenwort aufgeworfene Warum-Frage enthält den Vorwurf, dass etwas Unverantwortbares, Unerklärliches geschehen ist. Auch ohne Prophetie steht die rhetorische Frage im Raum. Der Psychoanalytiker will allerdings eine ernstgemeinte Antwort auf sie geben und löst damit ihren Vorwurfs-Charakter und den Charakter der Gerichts-Situation auf, in die sie stellt. Er sieht Gründe und Hintergründe, psychische Notlagen usw. Von da aus entwickelt Drewermann dann Lösungs-Überlegungen. Im Unterschied zu Benedikt XVI. gibt er immerhin offen zu erkennen, dass sein Denkansatz aus der griechischen Tragödie gespeist ist. Sein Heilmittel heißt nicht Abkehr vom Bösen und Entweltlichung, sondern Zuwendung zu den Tätern und tieferes Verstehen. Sich dem Bösen wehrlos aussetzen. Zunächst finde ich Drewermanns empathisches Urteil über die Kirche, die ihn ablehnt(e), respektabel und nobel. Aber sofort zeigt sich die Grenze seines Ansatzes. Das neue Vorwort einer aktuellen Neuauflage seines Werkes “Kleriker” eröffnet er mit dem Satz: „Die Kleriker leiden am meisten an der katholischen Kirche.“ Gewiss hat ein gewisse Anzahl von ihnen ernste Probleme damit, aber im Zusammenhang mit den Missbrauchsvorwürfen ist das zynisch und schlägt den Misshandelten ein weiteres Mal in die verwundete Seele.

Drewermann führt seine Diagnose ebenfalls ins Allgemeingesellschaftliche aus, wenn auch aus anderem Blickwinkel als Benedikt. Nicht die 68er, sondern geradezu entgegengesetzt “das ganze bürgerliche Bewusstsein” sei ursächlich schuld. Es baue auf einer viel zu einfachen zweiwertigen Moral auf und trenne einfach zu schlicht und zu streng zwischen gut und böse. Diese simplifizierende Zweiwertigkeit werde weder dem innerpsychischen Drama der Täter noch der christlichen Botschaft gerecht. Das klingt nur scheinbar nach Differenzierung und Komplexitätswahrnehmung. Denn dann sagt er: “Die Menschen, die Böses tun, sind nicht böse. Sie wollen das nicht. Sie sind im Grunde wie Verlorene, Verlaufene, Verzweifelte.” Das scheint mir die andere Seite vom Pferd zu sein. Drewermanns Lösung zielt auf die Besserung unreif gebliebener Menschen. Er will “heilen und nicht strafen”. Gemeint sind die Täter. Dass auch ihnen geholfen werden muss, wenn sie einsichtig sind und sich stellen, bestreite ich nicht, aber das ist etwas anderes. Schließlich gipfelt Drewermanns Gedankenweg in dem Satz: “Menschen, die glücklich sind, wollen nichts Böses mehr.” Da habe ich meine Zweifel. Anschließend folgt eine geradezu abenteuerlich anmutende Gesellschafts-Utopie. Drewermann scheint ernsthaft zu glauben, dass eine psychoanalytisch und -therapeutisch geschulte Gesellschaft a) möglich ist und b) ohne ein Strafrecht auskommt, wie wir es heute kennen. In seinem Theorie- und Therapiekonzept spielt der Gedanke einer Gerechtigkeit keine maßgebliche Rolle mehr. Es geht ihm vielmehr um eine empathisch erarbeitete Versöhnung aller mit sich selbst, mit dem Bösen im eigenen Leben und im anderen Menschen, der mir etwas angetan hat. Drewermann müsste sich die Frage gefallen lassen, ob mit diesem Denken nicht auch etwas “zertreten” wird, was geschützt gehört. Das Recht ist nach biblischem Verständnis eine lebensdienliche Instanz, deren Bürge und Hüter Gott selbst ist.

 

4. Die Tragödie als Lösungsansatz?

Bei allen Unterschieden im Vergleich sind Benedikts und Drewermanns Sichtweisen beide tragisch grundiert, nur auf unterschiedliche Weise. Bei dem einen ist es eine übermächtig gewordene Verlockung, bei dem anderen eine übermächtig gewordene innere Realität, die den Täter überwältigt und zu etwas getrieben hat, das er nicht wollte. Benedikt sieht Versuchung am Werk, die von außen kommt, und Drewermann skizziert Mechanismen innerer Entgleisung und Verführung. Beides sind aber verwandte Begriffe – Versuchung und Verführung -, Begriffe mit tragischer Konnotation. In beiden leidet (auch) der Täter scheinbar ausweglos an etwas, das beinahe schicksalhaft über ihn herein- oder aus ihm herausgebrochen ist. Die Konstellation ist schuld. In beiden Konzepten kann von einer strahlenden Rehabilitation geträumt werden. Sie erfordert allerdings eine heroische Leistung. Diese heldenhafte reinigende Großtat beschreiben auch beide. Benedikt arbeitet an einer Wiederherstellung der Würde des Lehramtes und der Heiligkeit priesterlicher Lebensformen durch konsequente Entweltlichung. Drewermann hingegen will mithilfe therapeutischen “Durcharbeitens” zu einem versöhnten Reifwerden und zu einem Hinauswachsen über das begangene oder erlittene Böse verhelfen – Böses, das im Grunde nicht böse, sondern Hilflosigkeit war. Ich gehe keinen dieser Wege mit. Das tragisch-heroische Grundmuster halte ich für radikal verfehlt, ganz gleich, in welcher Tönung es ausgemalt ist.

 

5. Theologische Selbstreflexion im Angesicht der Opfer

In einem Artikel in “Christ und Welt” Anfang April 2019 haben ein paar Autoren vorbildlich und tastend damit begonnen, nach eigenständigen Wegen einer theologischen Aufarbeitung zu suchen. Sie haben dabei sowohl auf sich selbst geschaut, ihre Zögerlichkeit, ihr Nichtbeachten der Probleme, ihre Beschämung usw., und immer wieder auch zu den Betroffenen geblickt. “Braucht es eine neue Theologie?” [8] Ja, es braucht eine Theologie der Selbstreflexion im Angesicht der Opfer.

Denn natürlich haben die erschütternden Vorgänge eine Rückwirkung auf die Integrität der Kirchen und auf die Glaubwürdigkeit aller ihrer Mitarbeiter. In der Tat beschädigen sie auch den Glauben von Menschen, die an den schlimmen Vorfällen unbeteiligt sind, aber derjenigen Kirche angehören, in der das stattgefunden hat. Deshalb müssen wir nachschauen (lassen), welche Fehler es in den kirchlichen Systemen gibt. Problematische Strukturen, ungesunde Glaubens-Haltungen, merkwürdige Theologien. Bitte keine theologische Selbstverteidigung der Kirchen wie bei Benedikt. Bitte auch keine naive Idealisierung des Evangeliums wie bei Drewermann. Vielmehr ist eine ergebnisoffene geistliche Selbstprüfung angesagt. Ergebnisoffen heißt: Offen für weitere Ermittlung und Erforschung. Ergebnisoffen heißt auch: Wir wissen noch nicht, wohin es unsere Kirchen führen wird, wenn wir uns dem stellen. Benedikt und Drewermann haben mir zu voreilig das Rezept geschrieben. Ich denke, unsere Kirchen befinden sich in einer schwierigen historischen Stunde, und ahne, dass wir auf Weichenstellungen zugehen. Wichtiger als Lösungen scheint mir momentan die Frage zu sein: Wie gehen wir in diese Ungewissheit hinein?

Hierzu eine Zwischenbemerkung:

Die Fähigkeit zur kritischen Selbstprüfung ist in religiösen Dingen nicht selbstverständlich gegeben. Religion soll ja zu etwas gut sein, steht für große Wahrheiten. Da passt das Böse nicht ins Bild. Verirrungen werden verdrängt oder “interpretiert”. Je größer der Skandal, umso größer die Versuchung zur bewussten oder unbewussten Heuchelei. Spirituelle Selbstkritik so besonders schwierig. Man muss verstehen, dass sie komplizierte Voraussetzungen hat, sonst gelingt sie nicht.

 

6. Mein Reflexions-Weg und Denkansatz

Sonntag, 10. März 2019. Es standen verschiedene Bibeltexte auf der liturgischen Speisekarte. Am Anfang der Passionszeit nichts Süßes, sondern Saures. Eher herbe Texte. Innere Einkehr und Buße waren angesagt. Unter ihnen ein Abschnitt aus 2. Korinther 6. Darin steht ein irritierender Satz. Eigentlich müsste ich sagen: Der Satz fällt, denn er hat sich für unsere Gegenwart erledigt. Das ist auch der Grund für die Irritation, die aus ihm hervorgeht. Bevor ich ihn zitiere, muss ich noch erwähnen, dass ich ausgerechnet an den Tagen vor diesem Sonntag in den TV-Nachrichten Berichterstattung zum Missbrauchs-Thema gesehen hatte. Kirchliche Würdenträger äußerten sich zu den Vorkommnissen in der (katholischen) Kirche und zur Notwendigkeit von Aufarbeitung. Zudem stieß ich auf die Arte-Dokumentation “Gottes missbrauchte Dienerinnen” [9]. In dieser Woche begegnete mir bei meinen Gottesdienstvorbereitungen ein neutestamentlicher Satz, der im Gegenüber zu den aktuellen Nachrichten verstörend kraftlos auf mich wirkte.

“Wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit dieser Dienst nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes.”

Einspruch. Doch. Weltweit, auch in Europa, WIRD dieser Dienst verlästert. Diener Gottes geben teilweise schwersten Anstoß. Es ist nicht die Mehrheit, aber es sind auch keine ganz seltenen Einzelfälle. Noch einmal: Das Problem ist konfessionsübergreifend. Vor allem dort, wo geschlossene Macht- und Vertrauensbereiche etabliert sind und wo sie geistlich besonders aufgeladen werden, kann es zu solchen Taten kommen. Daniel Bögner beschreibt das als “sakralisierte Hülle” [10]. Zugespitzt gesagt: Theologie und Spiritualität als Schutzraum für Täter. Das erinnert an einen Satz beim Propheten Jeremia. “Haltet ihr denn dies Haus, das nach meinem Namen genannt ist, für eine Räuberhöhle?” Kirchliche Ämter als Schutzbereich, ja geradezu Versteck für Verbrecher. Man lese Jeremia 7 und wird vor der Direktheit, die diese Wort entfalten, erschrecken.

Zum ersten Mal in meinem 30-jährigen Dienst als kirchlicher Mitarbeiter und Pfarrer ist mir etwas klar geworden. Ich habe es vorher geahnt und irgendwie gewusst. Natürlich: Die Kirche ist nicht perfekt. Pleiten, Pech und Pannen sowie Schwarze Schafe gibt es überall. Aber ich habe es bis jetzt noch nicht so drastisch und endgültig formulieren wollen, wie es für mich jetzt unabweisbar auf der Hand liegt.

Das gegenwärtige europäische Christentum hat seine mühsam (wieder-)errungene Unschuld verloren.

Vom Mittelalter kann man sich inzwischen glaubwürdig distanzieren, auch wenn kirchenfeindliche Agnostiker das gerne ignorieren. Auch von einigen gravierenden Fehlern der Reformation haben wir nach langer Vorarbeit begründet Abstand genommen. Die belastenden Verirrungen des 20. Jahrhunderts sind ebenfalls in Arbeit und wir sind durch Barmen, Vatikanum II, Ökumene, Friedensethik, Ökologie und Gerechtigkeitsfragen sensibilisiert, besonders in der Kirche – manchen ist das sogar schon zu viel. Jedoch aus der Gegenwart, an der man selbst teilnimmt, kann man nicht so einfach aussteigen. In der jetzigen Lage haben unsere Kirchen mit den Missbrauchsfällen ein schwerwiegendes und noch weitgehend unbearbeitetes Problem. Vielleicht ist es nicht das Einzige, aber es fällt inzwischen unübersehbar auf. Manche Fehler kann man einordnen, geschichtlich oder soziologisch relativieren. Sexuelle Gewalt gegen Kinder, überhaupt gegen Schutzbefohlene nicht.

Das gegenwärtige europäische Christentum hat seine Unschuld verloren. Die Wirklichkeit dieser Schande muss als theologische Wahrheit gedacht und begriffen werden. Benedikt sieht im Missbrauch vor allem ein kulturelles, moralisches Problem, von dem die Kirche sich nur richtig abstoßen müsse. Drewermann erkennt psychische und strukturelle Konstellationen, die man durcharbeiten und reformieren könnte. Das ist alles nicht gänzlich falsch. Aber es ist mehr als das. Das Problem ist im Kern ernster und wahrscheinlich weniger therapierbar, als er glaubt. Die Gewalt- und Missbrauchsvorfälle haben eine grundsätzlich spirituelle, eine geistliche Seite. Wenn man so will: Da waltet neben all den anderen Aspekten auch eine metaphysische Schrecklichkeit. Das ist zwar nicht meine gewohnte Begrifflichkeit, ich weiß es aber im Moment nicht besser auszudrücken. Solche bösen Taten schaffen eine Realität im Leben aller Beteiligten, die nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist. Mein Beitrag geht darüber, was das für die Kirchen, für den Glauben bedeutet und wie man das überhaupt christlich reflektieren kann. Mein Gedankenweg führt von Paulus zu den Evangelien und am Schluss wieder zu Paulus.

 

7. Unbeschwerter Anfang: Sehnsucht nach Integrität

Als Paulus seine Briefe schrieb, waren Karfreitag und Ostern ungefähr 15 bis 20 Jahre her. Da stand diese Weise des Glaubens noch ganz am Anfang. Die christliche Religion hatte noch keine beschämende Vergangenheit. Weder gewaltsame Christianisierung noch Kreuzzüge oder Weltkriegs-Predigten. Das Christentum war noch keine Institution in der Welt und hatte noch keinen Autoritäts-Status in der Gesellschaft, keine monumentalen Sakralbauten. Kirche war weder großer Arbeitgeber noch Körperschaft öffentlichen Rechtes mit Sitz in Rundfunkräten und Talkshows usw. Die urchristlichen Gemeinden waren ein unbeschriebenes Blatt und trugen noch nicht die schwere Fracht von großen Traditionen und ebenso großen Fehltritten usw.

Erst als außerhalb Israels sich jesusgläubige Gruppen bildeten, wurden sie als eigenes Phänomen wahrgenommen. Man nannte sie “Christianer” (Apg 11,16). Da begann die Geschichte unserer Religion, da begann das Christentum. Sie hatten anfangs nur ihre Botschaft und sich selbst. Das war herausfordernd genug. Denn sie waren keine Unschuldslämmer. Schon Jesus hat nicht gerade die feine Gesellschaft angesprochen, sondern gab sich mit den Gefährlichen ab, deren Unmoral und Krankheiten für ansteckend gehalten wurden: Zöllner, Aussätzige, Prostituierte usw. Gepredigt wurde die Rettung der Verlorenen, Heilung der Kranken und die Rechtfertigung der Gottlosen. Des Schöpfers freie Gnade für alles Volk. Kein Wunder, wenn problematische Typen in die Gemeinden kamen. “Gemeinschaft der Heiligen”  sagen wir im Glaubensbekenntnis, und Heilige wurden sie auch schon in den Briefen genannt. Das war ein mutiger, vollmächtiger, fordernder Zuspruch, um den konkret gerungen wurde. Im 1. Korintherbrief erfährt man Eindrückliches über die Probleme einer urchristlichen Gemeinde. Dürfen Gläubige einen Rechtsstreit gegeneinander anstrengen und sich öffentlich fertig machen? Können sie wirklich unbedenklich Opferfleisch aus heidnischen Tempeln kaufen, ist das nicht Abendmahl mit Götzen? Und wenn sie schon mal da sind, dürfen sie die Dienste der Tempelhuren in Anspruch nehmen? Man traut seinen Augen und Ohren nicht … Was ist, wenn die Eucharistie in der Gemeinde zum Gelage ausartet und Leute rülpsend und lallend Brot und Kelch herumreichen? Usw. Es gab Orientierungsbedarf, und das nicht zu knapp.

Dennoch war es die unbeschwerte Reinheit eines zauberhaften Anfangs. Schaut man in die Briefe, sieht man deutlich: Die Apostel spürten die historische Chance. Mit ihrer Verkündigung begann in der Weltgeschichte etwas Neues, Unverdorbenes. Die Christuspredigt reinigt die Seele und macht den gläubigen Menschen neu. “Ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.” (1. Kor 6,11) Du kannst anders leben, und alles, was du dafür brauchst, wird dir geschenkt: Gnade, Vergebung, Gottes Geist. Mitten in einem Reich, dessen Vitalität in ein paar Generationen verbraucht sein wird, bringt diese Botschaft eine andere, neue Lebenskraft in die Welt. Mitten in der alten Weltzeit und ihrem Chaos entsteht eine neue, nach der man irgendwann die Zeitrechnung umstellen wird.

Den Aposteln war klar, welche Verantwortung mit dieser Botschaft auf ihnen und den Gemeinden lag. Der Glaube an Christus muss ehrenhaft bleiben. Nur so ist er ein kostbares Gut. “Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Neid.” (Römer 13,2) Das sind Sätze, die ich lange für merkwürdig unzeitgemäß und moralinsauer gehalten habe. Jetzt sehe ich sie von weiter Ferne herüber leuchten wie erloschene Sterne, deren Glanz mich geheimnisvoll anzieht. “Wir sind ein Wohlgeruch Christi. Wir sind nicht wie die vielen, die mit Religion Geschäfte machen; sondern wie man aus Lauterkeit und aus Gott redet, so reden wir …”[9] Es liegt sozusagen im Gen-Code dieser Botschaft, dass christliche Gemeinschaften wie eine Stadt auf dem Berge sein sollten. Salz der Erde. Licht der Welt. „… damit die Menschen eure guten Werken sehen und euren Vater im Himmel preisen.“[6] Wohlgemerkt: „euren Vater im Himmel“. Es dient der Glaubwürdigkeit eines Glaubens, es kommt dem Evangelium, es kommt Gott zugute, wenn die Gläubigen ein einigermaßen ehrbares Leben führen und unter ihren Predigern wenigstens keine Kriminellen sind.

Das ist vorbei. Wieder und wieder erledigt, in jeder Epoche auf’s neue Alte. Unter dem Zeichen des Kreuzes, in Räumen der Kirche ist von geweihten und ordinierten Amtsträgern auch in jüngster Zeit unvorstellbar Böses getan und durch Verheimlichung auch geduldet worden. Im Präsens geschieht, was wir für mittelalterlich halten möchten. Ausgerechnet Verkündiger, Seelsorger, Erzieher haben sich an den Schwächsten vergangen. Mit der Würde der misshandelten Menschen ist auch die Gnade Gottes geschändet worden.

Was alles im Namen des Glaubens angerichtet werden kann, haben die Apostel in den ersten Jahrzehnten nur ahnen können. Ein wachsames Gefühl für die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur hatten sie von Anfang an. Daher die gerade genannten Ermahnungen. Neben der Gnadenbotschaft haben wir immer auch lebenspraktische Ausrufezeichen im Neuen Testament. Den erhobenen Zeigefinger zur Mahnung, den ich mir auf der Kanzel am liebsten verkneife. Denn ich weiß, wie schnell das autoritär und anmaßend wirkt. Aber der Anspruch der alten Worte ist ungebrochen. Es sind auch für uns kostbare Sätze, obschon sie einer untergegangenen Zeit entstammen. Die Prediger mussten noch auf kein abgrundtiefes Scheitern in historischen Ausmaßen Rücksicht nehmen. Es wäre damals sonst wohl niemand auf den Gedanken gekommen, Gottes bedingungslose Liebe zu predigen ohne die Hoffnung, dass sie den Menschen wirklich besser machte. “Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben.“[14] Ermahnungen wie die folgende wecken die Sehnsucht nach Integrität. „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“[13] Die wohltuende Gotteskraft braucht diese Aura von Wahrhaftigkeit und Anstand.

 

8. Das welthistorische Scheitern des Christentums als Thema der Pasion Jesu

Von Anfang an bestand die Gefahr, dass es schiefgeht. Und es ging schief. Das Christentum hat seine welthistorische Chance verspielt. Verspielt sie wieder und weiter. Was hätte dieses Evangelium in anhaltend integeren Kirchen für die Welt bedeuten können … Erneut liegt heute offen zutage, dass die Kirchen nicht die Lösung und schon gar nicht die Erlösung der Welt sind. Der Weg des Christentums ist auch von Opfern, geschunden Leibern und gebrochenen Seelen gesäumt – bis heute. Wie die Wege anderer Religionen und Staaten und Einrichtungen auch. Trotz „so soll es nicht sein unter euch“ (Matthäus 20,26).

Dass das Evangelium als Gotteskraft am Menschen auch scheitern kann, ist eine Einsicht, die erst nach und nach in der apostolischen Überlieferung gewachsen war. Das Christentum ist keine Heileweltreligion. Man begreift allerdings auch heute nur schwer, dass Gottes Gnade nichts mit optimistischer Menschenverbesserung zu tun hat. Die Evangelien könnten helfen, diese schwierige Einsicht zu reflektieren und mit ihr umzugehen. Wer etwas gebessert haben will, braucht zuerst einen realistischen Blick.

In den großen Paulusbriefen sieht man von diesem inneren Knacks im christlichen Glauben noch wenig. Erneut mussten erst weitere zwei bis drei Jahrzehnte vergehen, bis die Evangelien in den 70er Jahren in Umlauf kamen. Sie sind reifer und spiegeln bereits etwas von diesem Realismus wider, von der Ernüchterung des Christentums durch das Allzumenschliche. Was Paulus nur ahnen konnte und verhindern, heilen wollte, tritt in den Evangelien als bleibendes Problem deutlich vor Augen. Die Jünger, die Paulus einst noch “Säulen” genannt hatte (Gal 2,9), große tragende Persönlichkeiten, kommen in den Evangelien fast durchgehend schlecht weg. Das Jüngerunverständnis Jesus gegenüber ist da noch das harmloseste Problem. Unter ihnen war ein großmäuliger aber feiger Petrus, der bei der Verhaftung Jesu einknickte und das Bekenntnis verleugnete, zu dem Gottes Geist ihn einmal beflügelt hatte. Noch gravierender: Unter ihnen war auch ein linkisch falscher Judas, der sich mit seinem Verrat am Heiligsten, am Wehrlosen verging. Man hält die Luft an, dass die Apostel nach dem Schock von Karfreitag ihn noch im Rückblick würdigen und eine bemerkenswerte Solidarität mit jemandem aufrechterhalten, der in jener dunklen Nacht sich so abgründig verhalten hat und dann auf grausame Weise sich selbst das Leben nahm. “Er wurde zu uns gezählt und hatte Anteil am gleichen Dienst” (Apg 1,11), sagten sie. Sein Dienst, sein Amt wurde allem zum Trotz auch nachträglich nicht annulliert. Sein vakanter Platz sollte vielmehr neu besetzt werden.

Was bedeutet das? Machen wir uns zunächst klar, dass der Judas-Name in den Paulusbriefen noch nicht auftaucht; auch die jüngste Abendmahls-Überlieferung, die er weitergibt, lässt den Verräter im Dunkeln, sondern sagt es nur anonym: “… in der Nacht, da er [Jesus] verraten ward …” (1 Korinther 11,23) Wie überhaupt alle Nebenfiguren der Jesusgeschichte mit ihren Abgründen und Selbstwidersprüchen erst in den Evangelien sichtbar werden. Die Jünger. Pilatus. Das Volk. Während der Passion Jesu geraten alle Erzählfiguren in den Strudel von äußeren und inneren Konflikten und offenbaren ihre unterschiedlichen Charaktere. Davon lesen wir 30 Jahre zuvor bei Paulus noch nichts.

Was bedeutet diese merkwürdige, hochambivalente Judas-Überlieferung? Wie in ihr Böses und Gutes unausgeglichen nebeneinander stehen gelassen werden, geht bis an die Grenze des Verständlichen und Erträglichen. Was soll sie besagen.

Man hatte im Überlieferungsprozess der Jesus-Geschichten offensichtlich angefangen, darüber nachzudenken, dass Leugnung, Verrat und Zerstörung innerchristliche Probleme waren. Die dunklen Stellen lagen im Jünger-Kreis selbst. Innen, nicht außen. Ich sehe da auch keine Tragik, keinen geheimen Zwang, keine Besessenheit. Der böse Wille, der dunkle Plan erwacht aus heiterem Himmel und letztlich ohne nachvollziehbare Notwendigkeit im inneren Zirkel. Das grundlos Böse ist eine Realität auch innerhalb der Kirche. Man erkannte in den eigenen Reihen und sah es in der grundlegenden Geschichte schon auftauchen. Das unerklärliche Böse hat eine zerstörerische Kraft, die in Einzelfällen dem Täter jede Rückkehr und Wiederherstellung unmöglich macht.

Das bedeutet: Gefährlicherweise ist die gute Nachricht von Gottes Rettungskraft in die Hände und Münder unvollkommener Menschen gelegt. Wir sehen im Evangelium einen gnädigen Gott, der nicht von oben herab begnadigt, sondern der seine zerrissene Menschheit machtlos besuchen kommt. Wir sehen einen Gott, der unser völlig sanierungsbedürftiges Menschheits-Haus selber betritt und bewohnen will. Er sucht Gemeinschaft mit uns. Dabei liefert er sich aus.

Wir sehen im Evangelium einen Gott, der es in großer Liebe mit der kaputten Natur des Menschen aufnimmt. “Fleisch und Blut nimmt er an.” Einen Gott, der seinen Menschen unbedingt heilend, bessernd nahe kommen will. Auf die Gefahr hin, dass die Hände, in die er fällt, zu Söldnerfäusten werden. Auf die Gefahr hin, dass seine Verehrer sich als Handlanger des Bösen herausstellen, die ihm nur üble Spottgottesdienste feiern können. Die mit Dornenkronen und Prügelstöcken auf nackte Haut losgehen und schänden, was ihnen in die Finger kommt. Wer hätte gedacht, dass die Verspottung Christi einmal ein passendes Bild für einige europäische Geistliche unserer Tage werden würde? “Wer dem Geringen Gewalt antut, lästert dessen Schöpfer.” (Spr 14,31) Angesichts des geistlichen Ernstes sollten Kirchen, die das Böse in ihren Reihen geduldet haben, mit eiligen Solidaritätsbekundungen den Betroffenen gegenüber behutsam und zurückhaltend sein. Denn Gottes Solidarität findet möglicherweise andere, bessere Assistenten und Repräsentanten seiner Anwaltschaft. Es sieht mir nicht danach aus, dass wir Kirchen so ohne weiteres auf oder “an” der Seite der Opfer stehen könnten, nach allem, was bisher bekannt geworden ist.

Den Gewalttätern in Evangelium begegnet Jesus – Er allein, kein Opfer sonst braucht das tun – denen begegnet Christus mit der allein an Gott gerichteten Bitte: „… sie wissen nicht, was sie tun.“(Lukas 23,34) Sie sehen das Ausmaß der Zerstörung nicht, die sie anrichten. Sie haben kein Bewusstsein dafür, was sie den Menschen und ihrem Schöpfer eigentlich antun. In welche Dunkelheit sie beide hinabstoßen. Welche grausige Metaphysik da entsteht, wo sie sich in ihrer Gier nach Macht und Lust abreagieren. Welche Einsamkeit da herrscht. Welcher Schmerz. Sie wissen nicht, was sie tun, aber sie können es tun.

Als Jesus sich in diesen Abgrund selber hineinfallen lässt, betet er: Vater, vergib ihnen. Diese Fürsprache geht mir zu weit. Sie übersteigt meine Möglichkeiten, denn sie reicht weiter und tiefer, als ich verstehen und wollen kann. Es ist ein Reich des Todes, wohin Christus hinunter geht, vor dem ich bewahrt werden möchte. Hoffentlich muss ich nie in so einen Abgrund hinab, und hoffentlich öffnet sich sowas nie in mir selbst. Ich möchte nie so Opfer und nie so Täter sein. Davor will ich notfalls fliehen, wie die 10 Jünger geflohen sind, und muss doch zuschauen, was in Dokumentationen und Interviews wieder Neues aufgedeckt wird. „Es standen aber alle seine Bekannten von ferne.“ (Lukas 23,49)

Dem sich sicher wähnenden Beobachter legt das Evangelium trotzdem eine Frage nahe, die mir die Fluchtwege von Benedikt und Drewermann verstellt. Es ist die Frage der Jünger, als Jesus diesen Verrat voraussagt. „Herr, bin ich’s?“ (Markus 14,19) Judas hätten sie alle sein können. Niemand kann für die Kirche, für Kirchenleitungen, für Kolleginnen und Kollegen und Mitchristen, noch nicht einmal für sich selbst die Hand ins Feuer legen. Niemand kann sagen: So etwas gibt es in unserem Laden nicht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du zweifeln musst oder sogar widerlegt wirst. Es dauert nicht sehr lange, bis der dünne moralische Selbstschutz schließlich doch Risse bekommt. Das heile Selbstbild kann so gründlich entzwei gehen, wie der schützende Vorhang zum Allerheiligsten in der Todesstunde Jesu von oben bis unten zerriss. Es gibt keine Garantie. Es gibt keine Immunisierung. Und es gibt keinen Weg zurück in den paulinischen Optimismus.

Selbst Paulus, der sich entschieden um Rechtschaffenheit und Integrität bemühte und an sie glaubte (siehe oben), kannte diesen Selbstzweifel. „Zwar bin ich mir keiner Schuld bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt. Der Herr ist es aber, der mich richtet und das Trachten der Herzen offenbar machen wird.”

 

9. Schlussfolgerungen

Was bleibt? Angesichts der Entsetzlichkeiten, die seit Jahren und wahrscheinlich auch in nächster Zeit weiter enthüllt werden, sind die Liebe zur Wahrheit und das Ringen um Gerechtigkeit die Gebote der Stunde. Um der betroffenen Menschen willen, um ihrer Wiederherstellung willen muss Wahrhaftigkeit in die Kirchen einkehren, gerade dorthin, wo es beschämend und schändlich zugegangen ist. Judas gehört auch zu uns und zu unserer Wirklichkeit. Auch um des Evangeliums willen muss der Geist der Wahrheit bei uns einkehren. Es hat immer noch eine Erneuerungskraft in sich, die dem Bösen doch gewachsen ist. Auch dafür muss gerungen werden, denn wir haben sonst nichts, nur das Evangelium, das unsere Kirche in dieser Welt notwendig macht.

Was bleibt? Eine Einsicht: Siegesparaden, Glanz-Auftritte kann es für das Christentum in unserer Zeit nicht mehr geben. Diesen Joker haben wir wiederholt verzockt. Aus dem Prozess der notwendigen Skandalaufklärung sollte deshalb niemand als Held hervorgehen wollen. Wildes Urteilen von der Zuschauertribüne hilft genauso wenig wie die öligen Worte von Bischöfen in Pressekonferenzen, die noch kaum konkrete Konsequenzen gezogen haben. In unseren Kirchen haben wir keinen Grund, in irgendeiner Richtung pathetisch zu sein. Mit demonstrativer Betroffenheit können wir noch keine Integrität zurückbekommen, und konkrete Hilfe für die Menschen braucht Professionalität, Transparenz und Verbindlichkeit. Von den Betroffenen, die reden, können wir lernen. Wahrheitsliebe. Im Moment wüsste ich keine andere Medizin.

An den Schluss stelle ich biblisches Zitat, das ich als Mahnung für uns Kirchenleute höre. Paulus hatte es an die unbändige, zerstrittene, zügellose und verwirrte Korinthergemeinde geschrieben, von der hier wiederholt die Rede war und die das Christentum bis heute geblieben ist. „Wer meint, er stehe, soll zusehen, dass er nicht falle.” (1. Korinther 10,12)

 


[1] https://www.ekd.de/Glaubensbekenntnis-von-Nizaa-Konstantinopel-10796.htm

[2] https://www.ekd.de/ekd-haushalt-2019-eine-million-euro-fuer-aufarbeitung-missbrauch-40173.htm

[3] http://www.kath.net/news/67603

[4] https://www.deutschlandfunk.de/drewermann-ueber-die-katholische-kirche-mir-tun-die.886.de.html?dram:article_id=446500

[5] vgl. Daniel Bögner, Diese Kirche tötet. https://feinschwarz.net/diese-kirche-toetet/

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Donatismus

[7] siehe Fußnote Nr. [4]

[8] https://www.zeit.de/2019/15/missbrauch-kirche-theologie-vatikan-aufarbeitung/komplettansicht

[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Gottes_missbrauchte_Dienerinnen

[10] siehe Fußnote Nr. [5].