Warum Seenotrettung nicht genügt. Gerald Knaus in St. Katharinen

Am 25. November 2019 hielt Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitäts-Initiative einen Vortrag in unserem Gemeindesaal mit anschließender, angeregter Diskussion. Hier die Video-Aufnahme seines Vortrags und die thematische Eröffnung des Abends von Werner Busch.







Begrüßung und Eröffnung
Werner Busch

Mit einem Gesichtsausdruck kurz vor der Entgleisung und einer ruckartigen, kraftvollen Geste schnitt die Predigerin jede Diskussion über dieses Thema ab. Als schlüge sie sich den Weg durch einen dichten Dschungel, sausten ihre diagonal verschränkten Arme durch die Luft nach unten. Bis zu diesem Tag konnte ich mir nicht vorstellen, dass im 21. Jahrhundert ein so apodiktischer Ausdruck in einer Festival-Predigt auch nur denkbar wäre. Bis ins Gestisch-Mimische hinein sollte etwas Endgültiges mit einer durchaus autoritären Konnotation klargestellt werden.

Da steht eine Predigerin im schwarzen Talar mit weißem Beffchen – das quasi archetypische Bild der protestantischen Predigtperson. Sie steht allein auf der großen grünen Rasenfläche eines Stadions im Sonnenlicht eines Sonntagmorgens. Wie in einer Arena stand sie da, ausgesetzt, ohne schützende Kanzel, ohne Podium oder Bühne. Die Menschen schauten von den Rängen zu ihr hinunter. Sie sprach im lockeren Plauderton von „Bier“ und „Currywurst“ und „Gurkentruppe“. Setzte nachdenkliche Worte, ermutigte. Das muss man erst einmal hinkriegen in so einem Setting …

Mitten hinein in diese angenehme spirituelle Unterredung platzte auf einmal dieser überraschend scharfe, harte Ton. Gestus und Wortwahl waren klug aufeinander abgestimmt und durchkomponiert. „Man lässt keine Menschen ertrinken! Punkt!“[1] Durch die beiden Ausrufezeichen wurde die Kompromisslosigkeit ihrer Aussage-Absicht auch im Schriftbild niedergelegt. Die Theologin sah sich zu einem abschließenden Machtwort ermächtigt und warf sich mit Leib und Seele in diesen Satz hinein: „Man lässt keine Menschen ertrinken! Punkt!“ Der besondere Nachdruck, den sie dieser Aussage gab, war anrührend, für viele mitreißend, für manche übergriffig zugleich.

Dem Wortlaut nach – ohne Satzzeichen gelesen – ist diese Aussage zunächst eine Selbstverständlichkeit. Natürlich lässt man keine Menschen ertrinken und sieht zu, wie jemand hilflos im Wasser um sein Überleben kämpft.

Aber: Trotz seiner moralischen Selbstverständlichkeit liegt eine starke Spannung in diesem Satz. Diese Spannung hatte sich aus einer komplizierten und angeheizten Debattenlage in unserem Land, ja in Europa ergeben. Ungefähr ein Jahr zuvor – im Sommer 2018 – hatte die Ãœberschrift eines ZEIT-Artikels über Seenotrettung auf dem Mittelmeer im wahrsten Sinn des Wortes Furore gemacht. Die Ãœberschrift über der einen Seite einer Pro- und Contra-Kolumne hatte infrage gestellt, was doch für alle selbstverständlich ist und sein muss. Sie lautete „Oder soll man es lassen?“[2] Wie bitte? Menschenrettung unterlassen? Dass diese redaktionelle Headline nicht so recht zu der darunter stehenden Meinung von Mariam Lau passte, die vielmehr eine Problemanzeige war und kein Plädoyer für Rettungsverzicht, das fiel in der lauten Diskussion kaum noch auf.

Aus dem die AfD umgebenden und in ihr teilweise repräsentierten politischen Lager kannte man ähnliche Sätze. Von da kommend konnte man solche Aussagen empört an sich abperlen lassen. Aber dieses Mal war es anders. Ausgerechnet in der Wochenzeitung DIE ZEIT, und dann in der Form einer fragend zögerlichen Überschrift meldete sich mitten im politischen „Mainstream“ ein Zweifel zu Wort. Ein Zweifel, gegen den dann viele sich erbost gewehrt haben. „Retter vergrößern das Problem“[3]? Das war und ist für viele ein unerträglicher Gedanke, weil er die Moral verkompliziert, und zwar in einer Angelegenheit, in der es um Leben und Tod geht. Moral besteht schließlich darin, die Dinge auf den Punkt zu bringen und gültige Urteile zu fällen. Doch dieser Artikel mutete den Rettern und ihren Unterstützern einen schwierigen Gedanken zu. Es könnte sein, dass richtig gut gemeint und engagiert getan trotzdem schlecht gemacht ist. Für viele ist das ein unerträglicher, nicht statthafter Zweifel, weil er das Gute zermürbt.

Nun, im Schlussgottesdienst des Kirchentages 2019 in Dortmund, war endlich die Stunde für einen ebenbürtigen Widerspruch gekommen! Pastorin Sandra Bils stand allein auf dem Fußballfeld des Signal-Iduna-Stadions und sprach endlich das von vielen erhoffte Schlusswort. „Man lässt keine Menschen ertrinken! Punkt!“ Sie tat das so kraftvoll und bei so prominenter Gelegenheit, wie es kraftvoller und prominenter kaum möglich gewesen wäre.[4] Der prophetische Kirchentags-Gestus, den viele kennen und schätzen, hat seine Wirkung dann auch nicht verfehlt. Diese kurze Predigtpassage, so darf man ohne Ãœbertreibung sagen, hat auch Monate danach noch begeisterte Zustimmung hervorgerufen und wird vielleicht als „Ruf von Dortmund“ in die Kirchenhistorie eingehen. Als am 12.9.2019 der Ratsvorsitzende der EKD Bischof Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm vor der Bundespressekonferenz die Entscheidung des Rates öffentlich gemacht hat: „Wir wollen ein Schiff schicken.“[5], kommentierte Arnd Henze diese Bekanntgabe auf seinem Facebook-Profil. Der kirchenverbundene ARD-Hauptstadtkorrespondent verwendete dabei das Dortmunder Predigtzitat in sprachlich leicht, aber inhaltlich doch bemerkenswerter[6] Abwandlung. „Wir lassen niemanden ertrinken – Punkt!“ Die Entscheidung des Rates wurde also direkt als Antwort auf jene Predigtpassage gedeutet.[7] Natürlich muss auch in Anschlag gebracht werden, dass es eine Kirchentagsresolution gab, die ein eigenes kirchliches Rettungsschiff ausdrücklich gefordert hat.[8] Aber als brauchbares Zitat hat nur der Predigtsatz überlebt.[9] Mit seinem expliziten „Punkt“ und dem dahinter gesetzten Ausrufezeichen.

Das schwierige an diesem starken Zitat ist nicht die Aussage selbst. Die gilt. Die hat auch unser Kirchenvorstand voll bejaht und in seinem Positionspapier noch einmal ausdrücklich gegen jedes Wenn und Aber verteidigt. „Die Rettung von Menschenleben aus Seenot auf dem Mittelmeer halten wir aus allgemeinen humanitären Gründen für unverzichtbar. Die Rettungspflicht gilt unabhängig davon, ob die in Seenot geratenen Menschen sich an Schlepperorganisationen gewandt und Lebensgefahr in Kauf genommen haben, um von zivilen Helfern gerettet zu werden.“

Das Schwierige am Dortmunder Ruf ist das ausgeschriebene Wort „Punkt“ dahinter. Keine Diskussion mehr. Ende der Debatte. Ausrufezeichen!

Wir meinen, das Gespräch müsste weitergehen bzw. dann eigentlich erst richtig beginnen. Die Debatte leidet daran, dass sie zu früh für beendet erklärt wird. Man braucht einen moralischen Kompass. Ja. Aber dann auch politische Lösungen, die ein humanes und realistisches Verfahren etablieren. Um die Menschenrechts- und Flüchtlingskonventionen zu bewahren, braucht es solche konkreten Lösungen. Über die muss nachgedacht und diskutiert werden, auch öffentlich.

Wir vom Kirchenvorstand unserer Gemeinde meinen, dass Herr Gerald Knaus dafür ein guter Gesprächspartner ist. Ich heiße Sie herzlich hier bei uns willkommen, lieber Herr Knaus! Vielen Dank, dass Sie Zeit gefunden haben, um hier heute bei uns in St. Katharinen zu sprechen.

Meine Damen und Herren, in den 90er Jahren hat Herr Knaus durch persönliche Beobachtungen der Konflikte im Ex-Jugoslawien sein Lebensthema gefunden: Wie kann es sein, dass trotz europäischer Standards ein solcher Konflikt so schrecklich eskaliert? Und was müsste man tun, um solche Konflikte zu mildern, zu lösen? Herr Knaus gründete einen Think-Tank, die ESI (Europäische Stabilitäts-Initiative), die vor wenigen Wochen – Ende Oktober – ihr 20-jähriges Bestehen feiern konnte. Herr Knaus erarbeitet mit seinem Team durch kontinuierliche Beobachtungen vor Ort Berichte über verschiedene Krisenherde (Südosteuropa, Nordafrika und Naher Osten) und konkrete Problemstellungen. Dadurch entstehen Analysen, die nicht nur auf punktueller Reporter-Recherche beruhen – was auch seinen Wert hat – sondern auf anhaltender und immer neuer Untersuchung vor Ort. Aus diesen Feldforschungen und den vielfältigen Quervernetzungen sammelt ESI ihre Erkenntnisse und entwickelt auch konkrete Vorschläge und Handlungsempfehlungen. Manches davon wird Herr Knaus uns heute Abend vorstellen.

Uns – dem Kirchenvorstand – liegt daran, aus dem Punkt und den Ausrufungszeichen von Dortmund einen Doppelpunkt oder ein Komma zu machen. Wir denken, es gibt neben der notwendigen Suche nach praktischen politischen Lösungen auch ein starkes theologisches Argument dafür, die Debatte über Seenotrettung nicht moralisch abzuschließen, sondern verantwortungsbewusst zu eröffnen. Schon in seinem berühmten Gleichnis vom Barmherzigen Samariter belässt es Jesus nicht bei der Rettungstat aus unmittelbarer Not. Er erzählt die Geschichte weiter. Ist das nicht ein bedeutsames Detail dieser fingierten, ausdrucksstarken Geschichte? Damit wird deutlich gemacht, dass eine begonnene Hilfeleistung auch zu Ende gedacht werden sollte. Was kommt nach dem ersten Eingreifen? Der Samariter bringt den Geretteten in eine Herberge und übernimmt die Kosten, bis er gesund gepflegt sein wird. Er soll wieder auf eigenen Beinen stehen können. Hilfe muss zielführend sein. Wir werden diese Art des Nachdenkens heute erproben. Dafür stellt Herr Knaus jetzt seine Beobachtungen, Argumente und Vorschläge zur Diskussion. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Werner Busch, 25.11.2019

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FUSSNOTEN:

[1] https://www.kirchentag.de/aktuell_2019/sonntag/predigt/https://www.youtube.com/watch?v=GbAOuZhQ0Fg

[2] https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra/komplettansicht

[3] Ebd.

[4] https://www1.wdr.de/dossiers/religion/christentum/kirchentag-dortmund/abschlussgottesdienst-kirchentag-dortmund-104.html .

[5] https://www.facebook.com/ekd.de/videos/2414558055292812/

[6] Das Originalzitat von Sandra Bils konnte mit seinem diffusen „Man“ als mahnender Ruf in Richtung Politik und Allgemeinheit verstanden werden. Arnd Henze hingegen präzisiert jetzt ein kirchliches „Wir“ und macht – dem Vorgang durchaus entsprechend – die Kirche selbst zum verantwortlichen Rettungsakteur. „Keine Menschen“ markiert einen allgemeinen moralischen Grundsatz, der in der allgemeinsten Eigenschaft, nämlich dem Menschsein (Würde) der Opfer begründet liegt. Henzes „niemanden“ hingegen ist rigoroser, idealistischer, tendiert zu „keinen einzigen“ und überdehnt das Dortmunder Predigtzitat in einen unrealistischen Idealismus.

[7] „Die EKD will also Ernst machen mit der klaren Aufforderung, die Pfarrerin Sandra Bils in ihrer Kirchentags-Abschlusspredigt in Dortmund auf die seitdem vielzitierte Formel brachte.“ Reinhard Mawick, Helfen, aber richtig. Die Evangelische Kirche als Akteurin in der Seenotrettung, in zeitzeichen (ohne Datumsangabe): https://zeitzeichen.net/node/7690?fbclid=IwAR06dQIZq8rKLRbIgF6ihL4INk6QfcswGQvbtieyuQJTiXvbkSehIStB_ko.

[8] https://dxz7zkp528hul.cloudfront.net/production/htdocs/fileadmin/dateien/Resolutionen/V.LOG-002_Schicken_wir_ein_Schiff.pdf .

[9] Wenige Tage nach dem Vortragsereignis mit G. Knaus tauchte das Zitat „Man lässt keine Menschen ertrinken! Punkt!“ erneu prominent auf. Als im November 2019 die Vereinsgründung von „Gemeinsam retten“ („United srecue“) mit Sitz im Kirchenamt der EKD bekannt gemacht wurde, fand das Zitat von Sandra Bils sowohl auf der Vereins-Homepage ( https://www.united4rescue.com/) als auch im Bericht auf der EKD-Homepage über die Eröffnung der dazugehörenden Spendenaktion Verwendung (https://www.ekd.de/buendnis-united4rescue-gruendung-52184.htm).

Links:
Zu Gerald Knaus siehe: https://www.dw.com/de/gerald-knaus-es-gibt-kein-recht-auf-migration/a-46649325
und zum Gambia-Plan sowie der Arbeit der ESI: https://www.esiweb.org/index.php?lang=de&id=67&newsletter_ID=136