Brief an die Theologenzunft …

… zum bevorstehenden Reformationsjubiläum

Wo bleiben Sie, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Systematischen Theologie? Werden Sie das Reformationsjubiläum mit Schweigen übergehen? Verzeihung, wenn ich so ohne Umweg und auch ganz ohne Blumenstrauß in der Hand mit der Tür ins Haus falle. Aber die Zeit drängt.

Ihre Kolleginnen und Kollegen in den historischen Disziplinen haben 2017 längst auf ihre Agenda genommen. Sie kennen die Namen: Burckhardt, Kaufmann, Lehmann, Leppin, Reinhardt, Roper, Schilling, Wendeburg u.a. In Monographien, Aufsätzen und Vorträgen wurden Detailforschungen, Überblicke und Deutungen vorgelegt. Gut so. In den zurückliegenden Jahren wurden die Reformationsjahrhundertfeiern neu dargestellt und auch Luther wurde mehr als einmal wieder auf den Objektträger historischer Forschung gelegt und unter das Mikroskop geschoben. Nicht zuletzt benötigte auch die touristisch-museale Ausgestaltung der Reformationsstätten das entsprechende Fachwissen. 2017 ist die Stunde der Historiker.

Daneben haben zahlreiche andere Persönlichkeiten aus Kirche, Politik und Kultur Feder und Wort ergriffen. Man sieht, wie sich der alte Erfahrungssatz „Gleiches erkennt Gleiches“ bewahrheitet. Luther und die Reformation lassen sich (auch) gut im pointiert meinungsfreudigen und intellektuell kreativen Feuilleton-Stil beackern. Dann und wann hört(e) man daneben kirchenkritische Zwischenrufe nach einer neuen Reformation und spitze Sätze zu den „Reförmchen“ unserer Tage. Und nicht zu vergessen: ein Verriss des Impulspapiers Kirche der Freiheit gehört inzwischen beinah schon zum guten Ton …

Es konnte einem natürlich auch nicht entgehen, dass einzelne aus Ihrer Zunft, liebe Systematikerinnen und Systematiker, das Thema „Reformationsjubiläum“ bereits aufgespießt haben. Aber wo bleiben die Versuche, in der sich mehr und mehr verdichtenden Aura des anstehenden Großereignisses die bedeutsamen theologischen Fragen der Gegenwart zu identifizieren, zu beschreiben und sie mit großen Würfen und zentralen Thesen dann auch zu beantworten? Theologiegeschichtliche Rekonstruktion ist ja schön und gut. Und selbstkritische Gedanken darüber, wie man mit dem Erbe Martin Luthers umgehen kann, auch. Aber das sind nur weitere Belege für das Übergewicht des Historischen.

Wo bleiben Sie als Systematiker mit dem, was Ihre eigene Profession ist? Vielleicht kann man Sie mit Polemik locken: Gewiss haben Sie Besseres zu tun als sich mit dem aufwändigsten Reformationsjubiläum der Geschichte zu beschäftigen, auf das die Evangelische Kirche sich inzwischen ein ganzes Jahrzehnt lang vorzubereiten versuchte. Oder ist das einfach kein geeigneter Gegenstand innerhalb Ihres Reflexionsfeldes? Steht Ihnen derzeit keine Ihrem Fach gemäße frische Fragestellung zur Verfügung, mit der Sie sich dieses Großereignis und seine Themen mit geistlicher Urteilskraft erschließen können?

Die Frage nach dem gnädigen Gott kommt sicher nicht in Frage. Die ist Jahrhunderte alt und hat sich abgenutzt. Im theologischen Betrieb gehört sie schon lange nicht mehr auf die Frageseite, sondern vielmehr zum festen Antwortrepertoire. Gott ist die Liebe. Fertig. Das gilt so umfassend und voraussetzungslos, dass man es zu einem allgemeingültigen Prinzip erklärt hat, beinahe zu einem metaphysischen Naturgesetz, – wenn Metaphysik oder Transzendenz nicht so fragwürdige Begriffe geworden wären … Auf jeden Fall aber sind die religiösen Streicheleinheiten von einer obersten universalen Instanz inzwischen so fest in die allgemeine theologische Denkmechanik des kirchlichen Lebens eingebaut, dass sie als perpetuum mobile völlig reibungs- und aufwandslos funktionieren und ununterbrochen beruhigend vor sich hinsurren. Dass Sie dem keinen Trommelwirbel mehr geben möchten, damit bin ich einverstanden. Eine Brücke, die nicht nur gefühlt fast ein halbes Jahrtausend immer weiter ausgebaut wurde und nun bequem quasi 4-spurig sicher befahren werden kann, braucht nach 500 Jahren tatsächlich keine neuinszenierte Eröffnungsfeier mehr.

Mit dieser auf Dauer gestellten Gnädigkeit im Himmel und auf Erden kann allerdings kein von überspannter Menschenmoral und Selbstoptimierungswahn bedrängtes Gewissen wirklich getröstet und aufgerichtet werden. Auch ein sich im unerbittlichen Streit zwischen den selbsternannten Rettern des Abendlandes und den sich heiß kämpfenden Helden von Demokratie und Toleranz verhedderndes Gewissen wird dadurch nicht zur Klarheit befreit. Das bemerkt man jedoch erst auf den zweiten Blick. Ganz zu schweigen von dem Dauerschlechtengewissen, das die dringlichen ökologischen Fragen mit ihren mächtigen Vorwürfen tief und weit verzweigt in unsere innere Welt eingepflanzt haben. Aber vom Gewissen zu reden, jener höchst individuellen Geisteskraft im Menschen, auf es zu achten und danach zu suchen, dass es getröstet und befreit wird, also existentielle Entlastung und Klarheit zu erstreben, ist, glaube ich, in unseren Tagen einfach nicht angesagt.

Liebe aufrichtig geschätzte Systematikerinnen und Systematiker, Ihre letzte größere Stunde, an die ich mich in meiner subjektiven Sicht erinnern kann, schlug nach meinem Dafürhalten im schon längst zu Ende gegangenen letzten Jahrtausend. Als 1999 die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre winkte, da haben Sie Aufsätze und Monographien geschrieben und sich engagiert zu Wort gemeldet. Da haben Sie um die Rechtfertigung des Gottlosen gerungen. Das waren noch Zeiten! Da schien es um’s Eingemachte zu gehen. Wenn jetzt Ihr überwiegendes Schweigen noch weiter anhalten sollte, dann ziehe ich spätestens zum Reformationssommer die alten Schinken einfach noch einmal aus dem Regal und rede mir mit einer guten Flasche Rotwein ein, sie wären für 2017 geschrieben. Da fällt mir ein: Der programmatische Text der EKD für 2017 „Rechtfertigung und Freiheit“ ist von einer Ad-hoc-Kommission verfasst worden, der mit Prof. Dr. Christoph Markschies ein renommierter Historiker (!) vorsaß. Und prominenter Widerspruch gegen diesen Text ist ebenfalls von, Sie wissen es, zwei Historikern erhoben worden.[1]

Aber vielleicht holen Sie ja gerade Schwung. In hoffnungsvollen Stunden stelle ich mir vor, Sie brüten in Ihren Turmzimmern mit hungriger Seele und bebendem Geist über Ihren aufgeschlagenen Bibeln. Vielleicht schauen Sie dem Volk nur noch ein paar Tage auf’s Maul und von da aus in die Herzen, denn wes die zweiten voll sind, des gehen die ersten bekanntlich über. Vielleicht – nein hoffentlich! – schicken Sie dann schon bald Ihre Thesen in den Druck und versenden sie an die Kirchenleitungen und Synoden, denen im Reformeifer der letzten Jahre leider die Theologie wie feiner Sand zwischen den Fingern durchgeronnen ist. Und denken Sie bitte daran, dass auch „der einfache Mann auf der Straße“ Ihr Wort hören und verstehen will. Lassen Sie Ihre Trompete mit einem deutlichen[2] und kräftigen Ton erschallen!

Ich tröste mich derweil noch mit der Phantasie, Sie warteten nur darauf, dass das ganze Jubiläums-Tamtam endlich losgeht und Sie dann Ihr frisches Wort treffsicher platzieren können. Bitte warten Sie nicht ab, bis es vorüber ist. Totengräber, Nachlassverwalter dürfen das tun. Oder eben Historiker, Archivare. Systematikerinnen und Systematiker auch? Verrückte Theologenwelt …

Kurz: Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen und durstig wie ein ausgetrockneter Schwamm.

Wo bleibt Ihr, liebe Systematikerinnen und Systematiker?

Ich vermisse Euch.

Ungeduldige und noch sehr erwartungsvolle Grüße sendet

Werner Busch

 

[1]  https://www.welt.de/debatte/kommentare/article128354577/Die-EKD-hat-ein-ideologisches-Luther-Bild.html.

 

[2]  Vgl. 1. Korinther 14,8.