Einführung
Vor etwas mehr als 180 Jahren, am 22. Mai 1836, wurde das Paulus-Oratorium von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) unter dem Dirigat des Komponisten in Düsseldorf uraufgeführt. An dieser Auftragskomposition hat er über 4 Jahre gearbeitet, hat sich dabei von befreundeten Theologen beraten lassen und mehrere Entwürfe geschrieben. Den letzten Schliff gab er seinem Werk erst nach der Uraufführung. „Mich hat vieles während der Aufführung erfreut, vieles verstimmt, und bis jetzt noch arbeite ich an einzelnen Stellen des Clavier-Auszugs, der nun bald erscheinen soll, und der Partitur, weil manches meine eigentliche Idee gar zu wenig ausspricht, ihr nicht einmal andeutend nahe kommt.“
Der neutestamentliche Paulus wurde schon von Mendelssohns Vater sehr verehrt, der im 19. Jahrhundert mit seiner Familie zum Christentum konvertierte. Man kann an der Namensgebung der Kinder – auch  zweier Söhne von Felix M.-B. – erkennen, dass der Völkerapostel über Generationen hinweg hohes Ansehen bei den Mendelssohns genoss. Inwieweit sich der Komponist des 19. Jahrhunderts mit dem zum Christentum bekehrten Juden Saulus des 1. Jahrhunderts persönlich identifizierte, ist in der Forschung allerdings bisher umstritten; die Vermutung eines autobiographischen Hintergrundes dieser Komposition liegt immerhin nahe.
Felix war im 7. Lebensjahr getauft worden. Sein späteres Interesse richtete sich dann aber auch auf die Wiederentdeckung und Wertschätzung seiner jüdischen Wurzeln, von denen sein Vater Abraham Mendelssohn sich und seine Familie durch den Übertritt zum evangelischen Glauben so entschieden getrennt hatte. „Die jüdischen Gegner Christi werden in Mendelssohns Oratorien mit einem Respekt dargestellt, wie ich es sonst nirgends in der christlichen Musikgeschichte kenne“, schreibt E. Kellenberger. In seiner feinfühligen und offenen Betrachtung des Jüdischen bzw. Alttestamentlichen (vgl. das Elias-Oratorium, 1846 uraufgeführt) ist Mendelssohn seiner Zeit weit voraus gewesen. Erst nach 1945 entwickeln evangelische Theologie und Kirche neue, tragfähige Dialogbeziehungen zur Mutterreligion. Im 19. Jahrhundert wurde allerdings der Antisemitismus vorherrschend, mit dem etwa Richard Wagner in seinem Pamphlet Das Judenthum in der Musik drei Jahre nach dem Tod Mendelssohns denselben mit unsäglichen rassistischen Vorurteilen überzog. Wagner sprach dem jüdisch geborenen Künstler die Fähigkeit ab, jene „tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten“. Welch eine Verblendung.
Nach einem anfänglichen Siegeszug des Werkes im 19. Jahrhundert blieben Mendelssohns „Paulus“ wie auch sonst seine Musik mehrere Jahrzehnte weitgehend unbeachtet und ungespielt. Publikum und Forschung haben erst im Zuge der Überwindung antisemitischer Irrwege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Größe und besondere künstlerische Leistung dieses Komponisten wieder entdeckt.
In seiner Musik hat Mendelssohn das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum in einer besonderen Schwebe und damit offen gehalten. Im „Paulus“ erkennt man dies an den teilweise stark kontrastierenden bis hin zu dialogisch wirkenden wörtlichen Anspielungen auf diverse alt- und neutestamentliche Bibeltexte.[1] Es gehört ohnehin zu den Eigenarten von Mendelssohns Komposition, dass er bei diesem Werk bis in die Arien-Texte hinein sich weitgehend auf biblische Formulierungen beschränkt hat und damit den Untertitel seines „Paulus“ konsequent einlöst: „Oratorium nach den Worten der Heiligen Schrift.“ Er hat die von ihm selbst ausgewählten biblischen Passagen dabei manches Mal auf das ihm wesentlich Erscheinende gekürzt und zu einem Aussagenkomplex zusammengefügt. „Beim Componieren selbst suche ich mir gewöhnlich die Bibelstellen auf, und so kommt es, dass vieles einfacher, kürzer und gedrängter wird, als es in ihrem Text steht“, schreibt er hierzu an den Theologen Julius Fürst. Und dem Dessauer Prediger Julius Schubring lässt er von seinen Korrekturarbeiten am „Paulus“ wissen: „Sonderbar (und gut) ist es, dass ich beim Componieren alle die Stellen, wo ich früher aus einem oder anderen Grunde ein Stück umstellen oder ändern wollte, nach und nach wieder so hinstelle, wie ich sie in der Bibel finde; das bleibt doch das beste.“
Keine Zeile in dem von ihm selbst zusammengestellten Libretto ist ohne einen oder mehrere biblische Hintergründe. Zahlreiche alttestamentliche Verse dienen in diesem Werk beispielsweise als gedachte Begründung des Verfolgungshandelns gegen die Christen (Nr. 12) und konfrontieren den Hörer mit einer in Konflikt und Widerstreit treibenden Bibelverwendung. Andere Bezüge deuten die Bekehrung des Saulus (Nr. 13 – 20) und seinen späteren Aposteldienst nach alttestamentlichen Mustern und zeigen Kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament. Schließlich endet das Gesamtwerk mit Zitaten aus den Psalmen 115 („Der Herr denkt an uns und segne uns“) und 103 („Lobet den Herren“).
Das Grundgerüst des Oratoriums hat Mendelssohn sich von den erzählenden Texten der Apostelgeschichte vorgeben lassen. Er hat dabei weit ausgeholt. Bis in die Jerusalemer Anfänge der christlichen Urgemeinde (Nr. 4) wird zurückgegriffen, um zunächst sehr ausführlich das dramatische Martyrium des Diakons Stephanus mit dessen – sachgerecht gekürzter – Predigt zu schildern (Nr. 5 – 11). Kritiker haben hierzu von Anfang an angemerkt, dass „die Nebenperson Stephanus wenn nicht ein Übergewicht über Paulus erhält, so doch das Interesse an diesem schmälert“ (Robert Schumann).
In dem Stephanusmartyrium fällt neben Anklängen an die Passion Jesu ein vielsagender Unterschied ins Auge. Keine Rachephantasie nach dem Muster „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“, sondern eine Vergebungs-Fürbitte besiegelt den Märtyrertod und befriedet so das Konflikt-Verhältnis zwischen Juden und Christen schon im Moment des gewaltsamen Auseinanderbrechens. „Herr: Behalte ihnen diese Sünde nicht.“ Ergreifend ist in diesem Zusammenhang die innige Arie in Nr. 7, ein Wort aus Matthäus 22,37. Den Ausruf Jesu „Jerusalem! Jerusalem!“ hat Mendelssohn als rahmenden, von Wehmut vollen Sehnsuchtsruf eindrücklich umgesetzt. Die Einfügung dieser Arie in den Zusammenhang einer brutalen Steinigung mutet dem Hörer starke musikalische Kontraste zu. Der zarte Trostchoral (Nr. 9) nach der Melodie „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ rundet diesen mitreißenden Teil behutsam ab, ohne ihn zu beenden.
Nr. 10 steht insgesamt noch unter dem trostvollen Vorzeichen des seligen Märtyrertodes; eher beiläufig taucht nun schon Paulus – noch Saulus – erstmals auf. Der hier nur assistierende Jüngling wird dann in Nr. 12 und 13 zum wütenden und federführenden Christenverfolger. Die ausführlich aufgenommene und sprichwörtlich gewordene Bekehrung vom Saulus zum Paulus aus Apg 9 (Nr. 14 – 22) setzt die opernhaft wogende Dramatik fort. Sie erfährt in Nr. 18 eine bemerkenswerte Interpretation. Mendelssohn greift auf den berühmten David-Psalm 51 zurück und deutet die Bekehrung damit als Umkehr- und Erneuerungserlebnis. Eindrücklich an diesem Buß-Psalm ist die Erwartung, dass einem schmählich Gescheiterten nicht nur individuelle Vergebung und Gewissenentlastung geschenkt wird; er wird vielmehr so vollständig wiederhergestellt, dass er in einem öffentlichen Amt zum Exempel und Verkündiger der Barmherzigkeit Gottes wird. „Ich will die Übertreter deine Wege lehren, dass sich die Sünder zu dir bekehren.“ (Ps 51,15) Hier klingt an, was im Zweiten Teil des Oratoriums (Nr. 23 ff) breit ausgeführt wird: Paulus ist zum Apostel der Heiden berufen und wird als Botschafter Jesu Christi den Erdkreis bereisen. Das ist durchaus im Sinne seines eigenen Selbstverständnisses. An verschiedenen Stellen in den neutestamentlichen Briefen reflektiert der Völkerapostel seine Lebenswende ganz vom Evangelium her und sieht in einer weltweiten Missionstätigkeit seine individuelle Berufung. Mit der Wahl von Psalm 51 interpretiert Mendelssohn dies zwar sachgerecht, aber weniger christologisch und weniger antijudaistisch, als es in den paulinischen Selbstauskünften erscheint. Auf den Originalton von Paulus aus seinen Briefen greift Mendelssohn in seinem Oratorium ohnehin nur sehr sparsam zurück.
Die so wirkmächtige Rechtfertigungslehre, wie sie z.B. durch Luthers Auslegung von Römer 3 geradezu berühmt und kirchenbildend geworden ist („So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“), wird mit keinem Wort besonders erwähnt. Mendelssohns „Paulus“ steht für einen Gottesglauben ohne (polemische) Rechtfertigungsbotschaft. Auch Christus steht trotz wiederholter Erwähnung[2] nicht so im Zentrum, wie man es bei Paulus selbst und bei den Reformatoren des 16. Jahrhunderts unübersehbar vorfindet. Die Betonung eines universalen Schöpfergottes, an den zu glauben allen Menschen eröffnet werden soll, ist argumentativ stärker im Textgewebe des Librettos verankert[3].
Dennoch weist die theologische Prägung seines Oratoriums durchaus evangelische Züge auf. Anknüpfend an die Schlusspassagen des ersten Teiles legt Mendelssohn am Beginn des zweiten einen besonderen Akzent auf die zentrale Verkündigungsaufgabe von Paulus. In Nr. 25 und 26 nutzt der Komponist dazu prominente Zitate aus zwei Paulusbriefen (2. Kor 5 und Rö 10). Mit ihnen wird auch sonst in evangelischen Dogmatiken die Grundstruktur von „Wort und Glaube“ beschrieben.
Mendelssohn entwickelt in seinem Werk die Idee eines universalen, weltumspannenden Glaubens, der die Menschen – aller religiösen Gewalt zum Trotz – verbindet und nicht trennt. Dieser Glaube soll sich auf Gott richten, der „nicht in Tempeln, mit Händen gemacht,“ wohnt, sondern im Menschen selbst (Nr. 36). Mit dieser optimistisch-religiösen Ausrichtung ist Mendelssohns Paulus-Oratorium „die Vorrede zu einer schönen Zukunft“ (Robert Schumann) und Ausdruck einer romantischen Geisteshaltung des 19. Jahrhunderts. Diese Denkweise erscheint heute (wieder) attraktiv und aktuell. Dennoch bleibt die Frage, ob man nicht doch über eine tendenziell theistische Paulus-Interpretation noch hinausgehen muss. Das theologische Vermächtnis des Völker-Apostels birgt ein unerschöpfliches Potential. Es hat sich daraus schon mehr als einmal ein kräftiger Anstoß für Veränderung und Neuanfang ergeben. Das 500. Reformationsjubiläum im Jahr 2017 ist ein Anlass, das neu zu entdecken. Gründe, Paulus zu lesen, gibt es über diesen Anlass hinaus noch unendlich viel mehr.
Werner Busch
[1] Eine ausführliche Entschlüsselung der biblischen Bezüge und Synopse mit dem Oratorien-Text übersichtlich dargestellt in: Michael Theobald und Wolfgang Bretschneider: Das Paulus-Oratorium von Felix-Mendelssohn Bartholdy, Stuttgart 2012, S. 115-185.
[2]Â Siehe Nr. 2; 14; 21; 24; 25; 29; 41; 42.
[3]Â Jeweils am Beginn der beiden Teile: Nr. 2 und 23; und in den beiden Predigten: Nr. 6 und 36.