Rede von Dr. Rainer Bendick im Gottesdienst am 16. November 2025.
Die Braunschweiger Katharinengemeinde praktiziert seit 2015 eine eigene Form des Kriegstotengedenkens; anlässlich von 80 Jahren Kriegsende hat Sie den Bildungsreferenten des Volksbundes der Deutschen Kriegsgräberfürsorge eingeladen, ein Wort an die Gemeinde zu richten. Damit soll einem ausdrücklich dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Volkstrauertag kein kirchlicher Gedenktag ist, sondern vom Volksbund getragen und initiiert wird.

WORTLAUT:
Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Herr Busch,
vielen Dank, dass ich als Vertreter des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge zu Beginn des Gottesdienstes einige Worte sprechen darf.
Der Volkstrauertag gehört nicht zu den Feiertagen des Kirchenjahrs. Der Volksbund richtet ihn aus. 1922 wurde er zum ersten Mal begangen, um an die Kriegstoten zu erinnern. Paul Löbe, Präsident des Reichstags, sagte in seiner Ansprache:
„Ein Volk, das seine Toten ehrt, wird in dieser Huldigung ein gemeinsames Band schlingen um viele Seelen denen dasselbe Leid wiederfuhr, und wird dieses Band auch ausdehnen auf die Mutter an der Wolga und am Tiber, deren Schmerz um den nicht mehr heimgekehrten Sohn, nicht minder weh sich ins Herz fraß, als der Mutter an der Donau und am Rhein.“
Die Erinnerung an die Kriegstoten als ein Beitrag zur Versöhnung der Völker!
Wir wissen, dass es anders kam. Das Gedenken an die Kriegstoten wurde in Deutschland bald zu einer Verherrlichung soldatischer Tugenden. Es beförderte die mentale Vorbereitung auf einen neuen Krieg nach dem Motto, das auf manchen deutschen Kriegerdenkmälern steht: „Wir gaben unser Leben, was tun Ihr?“ Und so war es für die Nationalsozialisten ein Leichtes, den Volkstrauertag in „Heldengedenktag“ umzubenennen.
Das löst heute Befremden aus und darum fremdeln mache Menschen mit dem Gedenken an tote Soldaten. Wozu gedenken?
Die Botschaft, die von toten, gefallenen Soldaten ausgeht, kann doch eigentlich nur lauten: „Nie wieder“, „Gemeinsam für den Frieden“. Aber aus bitterer Erfahrung wissen wir: so einfach ist das nicht.
Der Gedanke des „Nie Wieder“ inspirierte Kriegerdenkmäler in Frankreich zu der Zeit, die wir heute Zwischenkriegszeit nennen. Für die Zeitgenossen war es eine Nachkriegszeit mit der Hoffnung auf Frieden. In Vimy, nördlich von Arras in Nordost Frankreich, steht das kanadische Nationaldenkmal. Es erinnert an die Toten des Ersten Weltkriegs. Für die Zeitgenossen in Frankreich, in Kanada war er der „Große Krieg“, der sich nie wiederholen sollte. Das Denkmal zeigt an seinem Ende einen jungen Mann, der ein Schwert zerbricht. Ursprünglich sollte er einen deutschen Stahlhelm zertreten. Jedoch, das erschien zu militaristisch. Darum wählte man das Schwert, die Waffe, mit der Soldaten sich jahrhundertelang töteten.
Die Botschaft des Denkmals ist eindeutig: nie wieder, nichts ist schlimmer als Krieg.
Das Denkmal wurde im Sommer 1936 eingeweiht – 4 Jahre später, fast auf den Tag genau, paradierte die Wehrmacht auf den Champs Elysées. In Frankreich begann eine deutsche Besatzung, die 90.000 Juden und 30.000 Gegnern des Nationalsozialismus das Leben kostete.
„Nie wieder“ – dieser Gedanke inspirierte das Denkmal in Vimy. Und dennoch konnten der neue Krieg, der Zweite Weltkrieg, und die nationalsozialistische Herrschaft nur mit militärischer Gewalt beendet werden.
In diesem Krieg starben mehr Zivilisten als Soldaten: Menschen, die aus rassistischen oder politischen Gründen ermordet wurden; Zwangsarbeiter, die aus ihrer Heimat nach Deutschland verschleppt wurden; Opfer von Bombenangriffen.
Der Volkstrauertag erinnert heute an all diese Toten, an alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft – nicht nur an tote deutsche Soldaten. Das wird manchmal übersehen.
Aber was ist seine Botschaft? Natürlich kann die Botschaft heute nur sein: „NIE WIEDER!“ – und das bedeutet: nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie wieder Nationalsozialismus!
Jedoch, wir wissen aus historischer Erfahrung (und wir erleben es gerade): Dieser Wunsch erfüllt sich nicht in einfachen Antworten. Und so ist der Volkstrauertag ein Moment des Innehaltens, des Besinnens auf das Wesentliche, das das Zusammenleben von Menschen ausmacht – und darum ist es gut, dass Sie heute den Gottesdienst zum Volkstrauertag feiern, auch wenn er kein Feiertag des Kirchenjahres ist. Denn das Evangelium gibt Antworten, die über das Feld der Politik, der Realpolitik hinausreichen – Antworten, die ihrerseits diese Felder klug beeinflussen können. Das jedenfalls ist unsere Hoffnung.

Foto (c) Dr. Rainer Bendick. „Breaking of the Sword“ – ein junger Mann zerbricht das Schwert. Personengruppe am kanadischen Nationaldenkmal in Vimy (Frankreich).



