Der berühmte Sohn eines idyllischen Ortes bei Wolfsburg ist seinerzeit im Braunschweiger Katharineum zur Schule gegangen. Sein Heimatstädtchen mit kleinem Schloss, Kirche und Museum war – und ist – ein historisch gewachsener Ort mit Atmosphäre. Hier in Braunschweig ist eine Straße nach ihm benannt. Sie liegt in unserem Gemeindebezirk.
Die Fallersleber Straße ist vor allem eines: Eine Transit-Strecke. Vier Ampeln auf einer Etappe von etwa 700 m. Eigene Abbiegerspuren am Hagenmarkt, zur Schöppenstedter Straße und zum Fallersleber Torwall, damit der Verkehrsfluss nicht aufgehalten wird. Schienen und Oberleitungen für die Straßenbahn. Hier herrscht Bewegung. Innehalten hieße – wie man es auf der anderen, westlichen Seite des Hagenmarktes inzwischen fast gewöhnt ist – „Stau“. Täglich werden tausende Menschen durch diese relativ enge Verkehrsader geleitet. Sie hat einen hohen Puls.
Viele sehen diese Straße nur durch die Scheiben von Autos und Straßenbahnen. In den Augenwinkeln bemerken sie kaum die vorbeiziehenden Gebäude … Vom Hagenmarkt kommend in Richtung Osten unterwegs erfasst der versonnene Blick nur kurz den einsamen Löwenbrunnen am rechten Straßenrand. Auf dem begrünten Kirchengrundstück gegenüber vom Einwohnermeldeamt haben schon früher Kinder auf ihm gesessen. Seit 2012 ist das wieder möglich. Dort, wo die Fallersleber Straße für einige Meter sogar sechsspurig ist, wird das leise Plätschern des Brunnens übertönt. Denn auf diesem kleinen Fleckchen historischer Beschaulichkeit liegt der schwere Lärmteppich eines zentralen Verkehrsknotenpunktes unserer Stadt.
Schon zieht und schiebt es einen weiter. Weiter eine leichte Steigung hinauf. Stadtauswärts hält kaum etwas noch den Blick fest. Fast durchgehend ist die Fallersleber Straße von vierstöckigen Nachkriegs-Wohnhäusern gesäumt. Bombenhagel und Feuersturm vom 14./15. Oktober 1944 brachten totale Zerstörung über diesen Teil der Innenstadt. Wer sich noch erinnern kann oder historische Aufnahmen kennt, fühlt ein Bedauern in sich aufsteigen. Alte Patrizierhäuser und schöne kleine Fachwerkbauten gingen im Flammenmeer unter. „Wüst und leer“ (1. Mose 1) war dieser Teil Braunschweig geworden, durch menschliche Schuld. Eine Bombe traf auch die Katharinenkirche und riss den Dachreiter weg. Das Feuer in den Türmen wurde noch rechtzeitig gelöscht, während die Wohnhäuser ringsum in Schutt und Asche zerfielen. Ãœber Jahre war die Fallersleber Straße eine Kette von Trümmerhaufen. Anfangs baute man zunächst notdürftige Flachdachhäuser wie Zelte an den Wegesrand. Eines dieser Provisorien steht noch da. Doch bald schuf man bezahlbaren Wohnraum für Familien. Eine Straße wurde neu erfunden. Mehrstöckige Mietshäuser entstanden und waren schnell gefüllt. Nachbarschaften bildeten sich neu. Kinder wuchsen auf. Man kannte sich und lebte hier miteinander. Eine neue, inzwischen schon wieder „gute alte Zeit“ brach an.
In den Erdgeschossen dieser Häuser sind Geschäfte und Dienstleister angesiedelt. Wenn schon nicht den Straßenverkehr, so verlangsamen sie wenigstens den Menschenfluss auf dem Bürgersteig. „Geh nicht vorüber“, spricht es einen aus Schaufenstern für Mode und Innenausstattung an. Ein Fachgeschäft für Tauchsport neben einem traditionsreichen Bestattungshaus. Die Stadtentwicklung hat ihre eigene subtile Ironie. Eine Versicherung, eine Buchbinderei, ein Arztpraxis und mehrere Frisörsalons …
Der lang gezogene Häuserblock der Braunschweiger Wohnungsbaugenossenschaft macht die Eigenart dieser Bebauung augenfällig. Im Jahr 2016 wurde seine Fassade frisch saniert, seither erscheint das Erdgeschoss in einem freundlich hellen Okkapastell. Mit starkem Kontrast hebt sich die untere Ebene von den darauf liegenden Wohnetagen ab, die in einem kräftigen Anthrazit geradezu monumental wirken. Unten der Konsum hell und leicht. Das Wohnen liegt dunkel und schwer obenauf. Die Fußgänger werden von warm leuchtenden Wänden angestrahlt und ihnen bieten sich quasi „auf Augenhöhe“ diverse Einkehrmöglichkeiten. Leuchtende Reklameschilder oberhalb der Eingänge, kleine Fähnchen und die Einlagen in den beleuchteten Schaufenstern signalisieren auch in den dunkleren Abendstunden noch: „Tretet ein!“
Dass oberhalb davon Menschen wohnen, bleibt im Schatten. Auf den Bürgersteigen ahnt man noch nicht einmal, dass hier alleinstehende Senioren leben. Sie haben die bewegte Geschichte dieser Straße und die großen Veränderungen in ihren Nachbarschaften über Jahrzehnte miterlebt. Noch in den 80er Jahren waren die 3- bis 4-Zimmerwohnungen von Familien bewohnt. Den Hauseigentümer kannte man persönlich, wohnte er doch nebenan. Jetzt sind sie übrig geblieben, die älter gewordenen Damen und Herren in ihren mit Erinnerungen gefüllten Wohnungen. Für manche von ihnen ist es einsamer geworden. Studenten haben hier in Uni-Nähe inzwischen Unterschlupf gefunden. Am Wochenende feiern sie bei offenem Fenster kleine Partys in den hellhörigen Häusern. Sie wissen von der jungen Vergangenheit dieser Straße kaum etwas. Sie brüten über ihren Bachelor-Arbeiten und ziehen schon bald wieder woanders hin. Aus den Augen, aus dem Sinn. Die wenigen Paare aus der Umgebung bringen ihre Kinder morgens in den städtischen Kindergarten in die Neue Knochenhauerstraße. Wie ein dünner Seitenarm führt sie von der Fallersleber Straße in einen Bereich, den nur kennt, wer dort wohnt. Oder zur Arbeit ins Seniorenheim Casa Reha fährt oder eben für sein Kind einen Kita-Platz hat.
Das gelebte Leben der Fallersleber Straße bleibt im Vorbeiströmen unsichtbar. Es findet buchstäblich auf einer anderen Ebene und im Hintergrund statt. Die Anzahl der Klingeln an den Hauseingängen lässt immerhin vermuten, dass es wahrscheinlich knapper Wohnraum ist, in dem die Bewohner ihr Leben führen. Die Briefkästen geben zu erkennen, dass hier Menschen ein Zuhause haben und erreichbar sind. Wenn sie aus dem Haus treten, betreten sie allerdings einen unruhigen Raum. Wer seine Wohnung verlässt, kommt in eine Sphäre, die vom Kräftespiel des Vorbei-Eilens und vom konsummotivierten Innehalten bestimmt ist. Nach dem Schritt über die Türschwelle hinaus verwandelt sich der Anwohner in einen zufälligen Passanten. Gibt es hier Nachbarschaft auch jenseits der Haustür? Aus dem Verkehr raunt es einem von draußen her entgegen: „Wir haben hier keine bleibende Statt.“[i]
Die Bürgersteige mit integriertem Fahrradweg sind breit. Breit und grau, sodass auch Autos darauf halten können. Hektik auf Fahrrädern sorgt gelegentlich für Ärger. „Pass doch auf, Mensch!“ Warum auch hier langsam und bedächtig sein? Rücksicht hält nur auf. Man kann einander ausweichen, umso besser. Der Charakter dieser Straße als Durchfahrt für Autos und Straßenbahnen prägt auch unerbittlich ihren Rand. Zwischen Wilhelmstraße und Wallkreuzung ist dieser Weg Passage und Übergang. Wer hier geht oder radelt, will wo hin. Will vorbei.
Was andernorts in der Innenstadt – schon am nahe gelegenen Hagenmarkt – selbstverständlich ist, nämlich dass Restaurants und Cafés ihre Tische und Stühle auf den Bürgersteig stellen, mit Pflanzen und Sonnenschirmen zum Genießen und betrachtenden Verweilen einladen, – hier fällt es besonders auf. Der italienische Eisverkäufer und das Asiatische Restaurant stellen sie trotzdem hin, und sie werden genutzt. Immer wieder einmal setzen sich Menschen dorthin, essen und reden miteinander. Sie beobachten das Treiben, als befänden sie sich auf einer Piazza. Ein beharrlicher Trotz gegen Asphalt und Eisen und Blech. Ein milder Protest gegen das kühle Netz der Oberleitungen sowie das schmutzige Grau unter Füßen und Rädern. Der städtische Raum gibt hier wenig Resonanz. Er steht hart dagegen. Ein Hoch auf die mutigen Einladungen zum Verweilen, die kaum mehr als eine noch viel zu kleine Oase sind!
Von den Wohnungen aus nehmen die Menschen, die hier zu Hause sind, etwas ganz anderes wahr. Je nach dem auf welcher Straßenseite man sich befindet, hat man einen beeindruckenden Blick nach „downtown“. Wie über den Wolken schauen manche von oberhalb der Stromleitungen auf den Straßenverlauf herab. Aus der Senke des Hagenmarktes strecken sich die ungleichen Kirchtürme von St. Katharinen hoch empor. An manchem Herbsttag verschwinden ihre Spitzen im Nebel. Geheimnisvoll ragen sie dann wie in eine undurchdringliche Sphäre, als wäre da oben noch eine andere Welt, die sie berühren könnten. Ich stutze für einen Moment. Kann man das biblische Bild vom Turmbau zu Babel auf unsere Kirche deuten? Hochmütige Religiosität? Abgehoben? Passt nicht zu den weltlichen Niederungen und nicht in unsere Zeit. Dass die Bürgerschaften der Weichbilde vor Jahrhunderten an ihrem jeweiligen Markt mit Rathaus und Kirche sich zugleich Denkmäler ihres Wohlstandes und ihrer Selbständigkeit setzten, kann man gerade am Vergleich der historischen Pfarrkirchen der Innenstadt noch heute ablesen. Aber was bedeuten diese Gebäude heute? Für die Menschen …?
Abends wird St. Katharinen angestrahlt und schenkt der kühlen Unruhe, der dunklen Härte in den umliegenden Straßen ein warmes Leuchten. Auch auf der Fallersleber Straße ist es zu sehen, und sie wird erst im Dunkeln eine Straße mit Atmosphäre. Schon auf dem Hügel am Theaterwall wirken die leuchtenden Türme ganz nah und schön. Balsam für die Seele, ein Trost. Es gibt etwas in dieser Welt, das nicht von dieser Welt ist. Und auch nicht wie diese Welt ist …
All das sieht auch, wer hier wohnt, beim Blick aus dem Fenster. Oder von seinem kleinen Balkon aus, der einen wenigstens etwas aus dem Gewühle da unten heraushebt. Die aussichtsreichere Sonnenseite der Fallersleber Straße hat solche Balkone zur Verkehrsseite hin. Selten sind sie besetzt … Manchmal frühstückt jemand auf den ins Freie herausragenden fünf Quadratmetern. Oft nur eine Zigarette im Stehen. Man lässt den Blick schweifen. Nach gegenüber und die Straße hinauf …
Am oberen Teil der Straße ändert sich die Situation schlagartig. Auf dem breiten Weg vor dem neuen Bioladen stehen seit seiner Eröffnung im Dezember 2016 oft abgestellte Fahrräder. Man kehrt offensichtlich ein und nimmt sich Zeit. Die Gaststätte von Lord Helmchen hat in den warmen Monaten auf seinem Vorplatz im Schatten eines Baumes ein schönes Ambiente zum Verweilen. Nur ein paar Meter von der Fallersleber entfernt, eine kleine Vertiefung. Hier sitzen Gäste wie in einer Arena der Geselligkeit. Ein kniehohes Mäuerchen schützt diesen im Winter kahlen Platz vor der Straße und hält ihn frei. Und dann die kleinen Rasenflächen „Am Fallersleber Tore“, die als grüne Dreiecke auf die Kreuzung zeigen. Seit wenigen Jahren lässt die Stadt sie in den Frühlings- und Sommermonaten prächtig erblühen. Eine Augenweide mit Früh –und Spätblühern, flüchtiger Urlaub für die gestressten Sinne. Ein Biotop für Insekten am Rande der Innenstadt. Nicht selten sitzen dann Menschen auf den Bänken am oberen Rand dieser Plätze und blicken wie von Thronen auf die vor ihnen liegende Kreuzung. Die Mülleimer quellen über …
Die Verkehrsinsel an der dort liegenden Straßenbahnhaltestelle verhindert, dass Autos sich gefährlich an der haltenden Tram vorbeimogeln. Klar, wer von Westen her die Stadt durchfährt, will hier nur durch. Aber die Wallkreuzung unterbricht diese Flucht und ist der erste Punkt seit der Celler Straße, an dem eine gänzlich andere Sphäre den Verkehrsweg berührt. Das sagt mehr, als unser an die Straßennahmen gewohntes Ohr auf Anhieb hören kann. Den Haltepunkt „Fallersleber Straße“ gibt es nicht. Das Idyll des kleinen Städtchens bei Wolfsburg bleibt unerreicht. Stattdessen „Theaterwall“. Als sollte schon in der Namensgebung deutlich werden: Runter von dieser Straße! Du musst aussteigen und ausscheren, dann öffnet sich dir ein anderes Reich. Die Stadt zeigt dir erst abseits von dieser Strecke eine andere Seite von sich. Grün, wohltuend. Und unterhaltsam. Kultur. Endlich ist es einem möglich, aus der Gefangenschaft zwischen dicht bebauten Häuserzeilen und Straßenbahntrassen herauszukommen. Nicht nur die Fahrgäste der Linie 3 lotst der Theaterwall aus dieser grauen Wüste hin zu Kunst und Kreativität, kündigt die Dramen und Komödien des Lebens an. Die bis hierher verborgen geblieben sind.
[i] Hebräerbrief, Kapitel 13.
Ergänzung von Thomas Ostwald:
Dort, wo jetzt der Löwen-Brunnen steht, befand sich vor dem 2. WK die Eisenwarenhandlung Theodor Bollmann. Friedrich Gerstäcker hat in seinem Roman „Im Eckfenster“, der bekanntlich rund um den Hagenmarkt spielt, dort das Haus seines Theaterdirektors Süßmeier angesiedelt, in dem der schrullige Mensch wie auf einer Bühne einen eigenen Abgang im Boden hat. Die Figur ist nach Gerstäckers Onkel, dem Hofschauspieler und erstem Faust-Darsteller Eduard Schütz geformt. Gegenüber – heute Einwohnermeldeamt – befand sich im Roman das Lokal „Eckfenster“, das riesige Schaufenster besaß (in Wahrheit ein Möbelgeschäft), mit „Lochgittern“, damit man hinaus-, nicht aber hinein sehen konnte.