Geistliches Wort für diese Tage

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Der Panther. Im Jardin des Plantes. Von Rainer Maria Rilke

Der Mensch ist im Grunde ein Raubtier. Gierig nach Leben, nach Inspiration. Nach Resonanz und Antworten. Gott hat die Ewigkeit in unser Herz gelegt, als Sehnsucht. Doch diese Welt ist zu klein dafür. Sie ist unser Zuhause, ja. Trotzdem reicht sie uns nicht. Sie stillt nicht den Hunger, den wir haben. Die Seele will viel, aber sie weiß nicht, was. Sie hat Flügel, aber kommt nicht aus dem Nest. Sie hat Durst, aber findet keine Quelle, keinen Brunnen, aus dem sie zu schöpfen wüsste.

Und so steht das alltägliche Leben meistens in keinem Verhältnis zu dem, wonach wir hungern und dürsten. Bunte Bilder vom guten Leben zirkulieren zwar warm und leuchtend in unseren Köpfen. Aber am Ende holt uns die Gegenwart wieder ein. Sie ist regelmäßig kleiner, enger und bescheidener als die Hoffnung, mit der wir sie erwartet haben. Im Licht der Realität erlischt manche Sehnsuchtsvision.

Manchmal zwar, ja manchmal erwacht etwas in mir. Manchmal träume ich wieder und denke: Es wird alles groß. Besser und strahlender als das hier. Es wird alles gut. Manchmal „schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf“. Wenn ich Geschichten von Menschen höre, denen etwas geglückt ist. Berührende Beispiele von unverhofft Gutem. So etwas lässt hoffen, dass alles noch ganz anders werden kann. Dass Weisheit und Liebe, Brillanz und Gelingen doch noch möglich sind. „Dann geht ein Bild hinein.“ Das inspiriert, macht neugierig auf morgen, lässt mich wieder Pläne schmieden. Doch gleichzeitig ahne ich: Auch das ist wieder zu groß und wird nicht eingelöst von dem, was daraus wird. Manche hat dieser Frust erwartungslos gemacht. “…und hört im Herzen auf zu sein.” Es kommt eben, wie es kommt. Leben ohne Vision.

(c) eelkika (pixabey)

Also bleibt nur: Das Leben, das wir haben, in der Welt, wie sie ist, zu führen. Und mit den Ernüchterungen klar zu kommen, die Rilke mit dem Bild des Panthers im Käfig anschaulich und fühlbar macht. Von Jahr zu Jahr sammeln wir neue Enttäuschungen. Auch in 2021 wird das so sein, vielleicht gerade, weil die Hoffnungen so groß sind. Die Frustrationen fügen sich wie Stäbe zueinander, und werden zum emotionalen Käfig. „… und hinter tausend Stäben keine Welt“. Man nennt das Erwachsenwerden: sich die hochfliegenden Hoffnungen auf eine goldene Zukunft abgewöhnen. Die Realität annehmen. Große Willen verzweifeln an der unzähmbaren Wirklichkeit da draußen. Manchmal bin ich es leid und werde müde. Unsere Zeit ist sicher kein Käfig wie im Jardin des Plantes, aber sie ist ungewohnt eingeschränkt, wie schon lange nicht mehr. Advent, Weihnachten und Jahreswechsel: Dieses Mal für viele “ein Tanz von Kraft um eine Mitte”, in der genervt, erschöpft und wie „betäubt ein großer Wille steht“.

Doch da! Ein neues Bild vor unseren Augen. Ob unsere Pupillen sich dafür öffnen? Es ist Jesus. Der Wanderprediger vom See Genezareth. Schon seine Geburt, so die Legende, war alles andere als traumhaft. Später dann um ihn herum: wenig Glitzer, kein Lametta. Sondern vielmehr Menschen, die aufgehört haben, von Glamour zu träumen. Frustrierte, Gescheiterte, Verkorkste. Menschen die erschöpft sind, und es schwer haben. „Kommt her zu mir, alle!“ Nicht viele aufrechte Recken findet man unter seinen Nachfolgern. Dafür Gekrümmte, vom Leben Gezeichnete. Menschen mit Falten, Macken, Selbstzweifeln und Ängsten. Mit ihnen ging er auf die Tore Jerusalems zu. “… der da kommt im Namen des Herrn.” Advent feiern heißt: ihn bei seiner Ankunft begrüßen. “Komm, o mein Heiland Jesus Christ, meins Herzens Tür dir offen ist.”

Jesus zieht ein. In Städte. Auch in Herzen, die wenig Urbanes Ambiente in sich tragen. Notfalls in die kleinste Hütte. Wenn es sein muss, auch in einen Stall. Sein Weg führt nach innen. Wahrscheinlich ist das die Herausforderung dieser Tage: Nach innen gehen. Wir haben gelernt, nach außen gerichtet zu leben, in der Zerstreuung. Unsere Zeit ist extrovertiert. Die Geräusche, die eine Stadt macht, Duft, Reklame und Beleuchtung regen die Sinne an. Abwechslung. Events und Genuss – ich bin von Herzen gerne Stadtmensch, weil ich genau das liebe. Aber ein kleines Virus reicht aus, um einer ganzen Welt besonders in ihren großen Metropolen zu sagen: “Stay at home.” Geh in dich. Halte Einkehr.

Es gibt einige, die das jetzt nicht können: sich besinnen. Die Sorge um äußere Existenz, Gesundheit oder um die Lieben frisst sie auf und verwüstet gerade ihr Inneres. Künstler, Gastronomen, Pflegekräfte, denen allmählich die Kraft ausgeht. Töchter und Söhne von Altgewordenen. Wir müssen sie mittragen. Die Gesellschaft muss sie stützen. Lassen wir keinen zurück!

Aber wer kann, der möge in diesen Wochen Gelegenheiten suchen oder schaffen, um nach innen zu gehen. Zurückkommen in die eigene Seele. Mal wieder ein Gefühl dafür kriegen, wer ich eigentlich bin. Woher komme ich und wo stehe ich? Was wird noch aus mir? Spaziergang. Tagebuch. Fotoalbum. Gespräch. Was auch immer dabei hilft – tu es!

Vielleicht auch: Gottesdienste. Sie fühlen sich unter den jetzigen Bedingungen immer noch sehr ungewohnt an. Vielleicht sind sie gerade dadurch eine Hilfe. Kein gemeinsamer Gesang, kein liturgisches Programm, sondern Passivität. Nichts tun, statt dessen ganz auf Empfang gehen. Sich Zeit nehmen zum Nachdenken. Zeit für Innigkeit bei schöner Musik. Vielleicht ein Gebet. Manchmal eine Kerze. Wer kommt, ist nicht allein, aber trotzdem für sich.

Lasst uns in diesen Wochen nach innen gehen! Den Weg Jesu. Wir werden schon von ihm erwartet. “Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe. Wer aufmacht, bei dem werde eintreten und mit ihm das Abendmahl halten.” Dann – bald wieder, im neuen Jahr: Geh hin! Geh wieder ins Leben. Aber geh im Frieden des Herrn. Bleib in ihm gegründet. Lass dich in die Welt senden, lass dich wieder auswildern. Du wirst gebraucht. Deine Berufung für 2021: Ein Segen für andere werden.

Werner Busch

(c) jplenio (pixabay)