„Künstliche Intelligenz“ – Eine theologische Annäherung

Thematisches Grußwort von Pfarrer Werner Busch am 7. Oktober 2019.

Anlass: Vortragsveranstaltung der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft.

Guten Abend und willkommen im Gemeindehaus von St. Katharinen! Ich stehe hier vor Ihnen als Pfarrer einer universitätsnahen Kirchengemeinde und bin auch für die Ev. Studentengemeinde zuständig, in deren Namen ich Sie ebenfalls herzlich begrüße. Es ist eine Freude, Sie als ein so große Versammlung hier im Haus willkommen heißen zu dürfen. Vielen Dank für Ihr Interesse. Mein Dank richtet sich auch an Herrn Prof. Dr. Haux und an einige Mitarbeitende im Hintergrund für die unkomplizierte und zugleich sehr sorgfältige Vorbereitung dieses Abends. Es freut unseren Kirchenvorstand, dass Sie unsere Gemeinde als Kooperationspartner auserkoren haben, und wir öffnen gerne unsere Türen. Dass in der Person des Referenten wissenschaftliche Expertise und musikalische Begabung zusammengehen, passt übrigens sehr gut zu unserer Gemeinde, die in Bildung und Musik zwei ihrer wesentlichen Schwerpunkte hat.

Dieses Grußwort darf ich als Gelegenheit für eine theologische Annäherung an das überaus interessante und aktuelle Thema dieses Abends nutzen. Ich lade Sie ein, mich auf ein paar Gedankengängen zu begleiten.

Auf der Suche nach theologischen Traditionen, die im weiten Sinne mit künstlicher Intelligenz zu tun haben könnten, wird man nicht so schnell fündig. Nähert man sich aber dem Phänomen von derjenigen Seite her, dass der Mensch ein Entdecker und Erfindet ist, stößt man in den biblischen Ãœberlieferungen schon eher auf Spurenelemente entsprechender Fragestellungen. Was den Menschen als Menschen auszeichnet ist – nicht nur, aber auch -, dass wir zu schöpferischen Leistungen fähig sind. Wir können in dieser Welt etwas erschaffen, das uns selbst übersteigt und dass es ohne uns nicht gäbe. Verbinden wir also die anthropologische Frage mit dem Begriff des Homo Faber, führt sie uns in der Theologie ohne große Umwege in die biblischen Urgeschichten zurück. Wir durchstöbern die ersten Seiten im 1. Mose-Buch, das der jüdisch-hebräischen Titulatur folgend auch das „Buch der Anfänge“[1] genannt wird.

Es ist bekannt, dass das mit den Anfängen so eine Sache ist. Wir sind mit unserem Erkenntnisvermögen eigentlich „notorische Spätanfänger“[2]. „Die wichtigsten Erfindungen haben keinen Erfinder“, schreibt der Wissenschaftsjournalist Jürgen Kaube. Er pointiert: „Wir kennen den ersten Menschen nicht, der als erster aufrecht ging oder der als erster ein Wort sagte; wir kennen die Gemeinschaft nicht, die als erste einem unsichtbaren Wesen huldigte oder die als erste tanzte. Wie hieß die erste Stadt und wer nahm als erster ein Geldstück an und machte es dadurch überhaupt erst zu Geld?“[3]

Was sich historisch nicht datieren lässt, lässt sich aber mythologisch erzählen. In solcher Art Erzählung wird es begreiflich gemacht, d.h. gedeutet. Es wird in seiner Bedeutung für uns Menschen reflektiert. Die biblischen Urgeschichten bieten solche Deutungs-Erzählungen, die zu denken geben sollen. Sie haben eine unübersehbar philosophische Komponente, indem sie erzählen, was der Mensch wesenhaft ist. Diese Geschichten skizzieren die elementaren Daseinsbedingungen der „Welt, in der wir leben“. Sie erzählen von undatierbaren, metapphysischen Ursprüngen. In quasi archetypischen Narrationen zeigen sie das Allgemeinmenschliche und die darin zutiefst verankerte Weltbezogenheit als etwas, das sich nicht von selbst versteht.

Zu der Reflexionsarbeit in diesen alten Überlieferungen gehört schon auf ihren ersten Blättern die Frage: Was bringt der Mensch in die Welt? Sie hören darin auch ein Thema, das seit einiger Zeit unter dem Begriff des Anthropozän diskutiert wird. Es geht um die Reichweite und Tiefe menschengemachter Einflussnahme auf die natürliche Lebensbedingungen. Ähnlich wird bei der Gentechnik gefragt und in wieder eigener Weise auch hinsichtlich künstlicher Intelligenz.

In einer erzählerisch gestalteten Urform haben die biblischen Autoren diese Problemstellung als anthropologische Grundfrage bereits vorgedacht. Es gehört gewissermaßen zum alten Menschheitswissen, dass die Menschheit ihre ökologische Nische nicht in quasi symbiotischer Harmonie mit den gegebenen Lebensbedingungen bewohnt, wie es die tierischen Mitgeschöpfe tun, „ein jedes nach seiner Art“[4]. Vielmehr ragt menschliches Handeln heraus und hat teilweise gravierenden, störenden Einfluss auf die Konstitutionsbedingungen des Daseins überhaupt,[5] obschon die grundlegende Qualifikation der Welt dadurch nicht rückgängig gemacht werden kann. „Siehe, es war sehr gut.“[6] Auf diesem Hintergrund fiel eine Anregung von Prof. Dr. Haux bei mir auf fruchtbaren Boden und ich habe den Titel der Gemeinde-Themenreihe, zu der dieser Vortragsabend den Auftakt bildet, etwas verändert. Ein Wort und ein Fragezeichen sind hinzugekommen. „Die Welt in der wir leben. … wollen?“ Damit ist auch die theologische Fragestellung um einen Aspekt erweitert. Was bedeutet es für uns Menschen, wenn uns entgleitet, was wir eben noch selbstmächtig kreativ in die Welt gebracht haben? Was bedeuten die Folgen des Handelns für den Handelnden, wenn sie ihn zum Leidenden machen? Wenn durch die Ausübung schöpferischer Tätigkeit die personale Souveränität minimiert wird? Solche grundsätzlichen Fragen sind auch mit dem Thema der künstlichen Intelligenz verbunden.

In den biblischen Texten taucht menschlicher Erfindungsreichtum und das Kulturschaffen an einer markanten Stelle auf. Auf sie möchte ich hier mehr andeutend als explizierend hinweisen, und stelle Ihnen nun einen möglichen theologischen Blickwinkel zu den Fragen künstlicher Intelligenz vor.

Im urgeschichtlichen Stammbaum des Buches der Anfänge taucht menschliche Kulturentwicklung erst nach zwei Ereignissen auf, der Gottesentfremdung der Ur-Eltern Adam und Evan und dem Brüder-Drama von Kain und Abel auf. Riss zwischen Gott und Mensch, Riss zwischen Mensch und Mensch. Eine zweifache, tiefe Zäsur wirkt unhintergehbar und irreversibel in der Menschheitsentwicklung mit. Der Fortgang der Erzählung stellt menschliches Leben als von Kain ausgehend dar. Damit soll deutlich werden, dass der Mensch im Grunde ein Konfliktwesen ist. Lesen wir noch weiter[7], stoßen wir auf diejenige Stelle, zu der ich Sie mit meinem Gedankenweg heute Abend hinführen möchte. Aus Kains Stammbaum geht eine Reihe von Kulturschaffenden hervor. Nomaden, deren Lebensgrundlage die Viehzucht, die Domestizierung der Tiere ist. Daneben die Sesshaftigkeit der Städtebauer. Menschsein prägt sich in hier einer Diversität von Urbildern aus. Hinzukommen die Flöten- und Zitherspieler; die Musik tritt also als weiteres anthropologisches Phänomen hervor. Wir erleben dieses Phänomen ja auch heute Abend mit Prof. Dr. Kruse hier in eindrucksvoller Weise. Schließlich betreten die metallverarbeitenden Werkzeugmacher die Bühne. In ihren weit entfernten Stammbaumverzweigungen dürften sicher auch diejenigen Wissenschaftler mitgezählt werden, die künstliche Intelligenz bereits entwickelt haben und weiterentwickeln werden.

Eine theologische Sichtweise auf Fragen der künstlichen Intelligenz kann es sich nach diesem Befund schon einmal nicht so einfach machen, den Unterschied zwischen urwüchsig, natürlich einerseits und künstlich andererseits im Gegensatzpaar „gut und böse“ zu verabsolutieren. Die Bibel verstellt den Weg zu einem solchen romantisierenden Negativ-Urteil über die technischen Möglichkeiten des Menschen. Es ist theologischer Ethik verwehrt, grundsätzlich fortschrittsfeindlich zu sein. Reiche menschliche Kreativität und ihre Erzeugnisse gehören zum Menschsein hinzu. Sie haben ihren festen Platz in den biblisch-theologischen Deutungsversuchen des menschlichen Daseins.

Aber wo genau haben sie ihren Platz? Sie tauchen in einem bemerkenswerten Zusammenhang in der Abstammungslinie Kains auf. Ein späterer Nachfahre namens „Lamech“ wird geboren, und aus ihm gehen dann Gutes und Böses, Gestaltung und Zerstörung gleichermaßen hervor. Er wird einerseits zum unbezähmbaren Rächer, der seinen gewalttätigen Vorfahren nicht nur nachahmen, sondern übertreffen will. Andererseits ist Lamech auch der Vater der erwähnten Abstammungsverzweigungen von Nomaden, Städtebauern, Musikern und Werkzeugmachern. Die Ambivalenz, die sich im Nebeneinander von Lebensentfaltung und Gefahrenpotential ausdrückt, schlummert überall. Wie klug ist dieser Stammbaum in den Erzählfluss eingefügt! Die Steigerung und Erweiterung großartiger menschlicher Kreativität im Weltgestalten geht mit der Möglichkeit bedrohlicher Zerstörung Hand in Hand. Die Stammbaumverwicklungen zeigen, wie schwierig ist es, Gutes und Böses klinisch sauber voneinander getrennt abzuleiten und objektivierend voneinander zu isolieren.

Jedoch kommt das Gefährliche nicht überall zum Ausbruch. Denn seit der Bluttat Kains hatte der Schöpfer eine Hemmung in die menschliche Seele eingepflanzt. Das Kainszeichen, das den Betrachter von der Blutrache abhalten soll. Damit kommen wir zu einer interessanten Beobachtung, die auch für unser Thema bedeutsam ist. Das Kainsmal ist ein symbolisches Zeichen; es symbolisiert das grundlegende Gefühl für Würde und Schutzbedürftigkeit menschlichen Lebens. JEDES menschlichen Lebens, sogar des Lebens eines Brudermörders. Dieses intuitive Wissen  –   G e w i s s e n   –  ist etwas Weiches, Sensibles und Irritierbares. Es ist keine absolute, quasi-mechanistisch mitgegebene Norm. Unser Gewissen ist keine instinktiv funktionierende Beißhemmung wie bei Hunden. Jemand wie Lamech kann dieses innere Zögern in sich unterdrücken und überspringen. Dann explodiert das menschliche Gewaltpotential, das in Gereiztheit und latenter Ausbruchsbereitschaft nervös schon in uns allen zuckt. Es liegt in der Hand des Menschen, ob er „durchstartet“ oder humane Rücksicht walten lässt. Wir können unser Gewissen zum Schweigen bringen, wenn die Emotionen, die es überspülen, nur erhaben und mächtig genug sind. Wie klug ist das erzählt!

Das Kainszeichen legt nahe, dass es – mangels einer absoluten Regulierung – auf Herzensbildung ankommt. Das Bewusstsein für die unverlierbare Würde jedes menschlichen Lebens kann korrumpiert werden. Deshalb ist die Menschheit der Kultivierung bedürftig und selbst nach den spirituellen und moralischen Abstürzen noch fähig. Zu dieser Herzensbildung gehört nach biblischem Verständnis auch die Einsicht, dass der Mensch selbst nicht das Maß aller Dinge ist. Die Letztinstanz ist ein Anderer. Anwalt seiner Schöpfung und des Lebens, das in ihr pulsiert, ist der Schöpfer selber. Er begleitet die Welt auf ihrem turbulenten Weg durch die Geschichte „still und unerkannt“ und bewahrt in ihr eine substantielle Unverwüstlichkeit.

Vielleicht können Sie mir folgen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich eine vorläufige Schlussfolgerung ziehe, die im universitären, wissenschaftlichen Kontext gewiss kritik- und diskussionswürdig, aber auch -fähig ist. Die erwähnten biblischen Texte sind ein eindrucksvolles, klug erzähltes Lehrstück gegen „die Vereindeutigung der Welt“[8]. Sie lehren, die Ambivalenz und Selbstwidersprüchlichkeit menschlichen Handelns zu begreifen und geben Impulse, damit problem- und verantwortungssensibel umzugehen. Der Glaube an Gott tritt dabei vor allem in seiner Funktion als eine Art spiritueller „Gewaltenteilung“ hervor. Im Glauben wird Gläubigen bewusst, dass sie inmitten des unsicheren und unabsehbaren Geschichtsprozesses zur Verantwortung gerufen sind. In diesem Denk- und Deutungsansatz kann Gott nie zum moralischen Legitimierungs-Faktor mit verrechnet werden. Innerhalb unserer planenden Kalkulation kann Gott weder als Garant noch als notorischer Gegner von Wissenschaft und Fortschritt zum Partner genommen werden. Vielmehr bleibt der Schöpfer fragend und zur Antwort fordernd in einem nahen Jenseits ungreifbar anwesend. „Mensch, wo bist du?“ Und auch: „Warum hast du das getan?“[9] – – –

Liebe Gäste, ich darf Ihnen noch sagen, dass Sie am Schluss dieser Veranstaltung zum Verweilen eingeladen sind. Getränke und Speisen sind auf dieser Etage unseres Gemeindehauses auf verschiedenen Tischen verteilt. Wir haben keine Bedienung, sondern setzen ganz auf Ihre naturwüchsige Orientierungsfähigkeit, und freuen uns, wenn Sie die Gelegenheit nutzen, zu bleiben und ins Gespräch zu kommen. Uns allen sei ein anregender, guter Abend gewünscht!

Werner Busch

 

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Fußnoten:

[1] Franz Delitzsch, Die Genesis – Buch der Anfänge. Reprint der Ausgabe von 3. Auflage von 1859, Norderstedt 2016.

[2] Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1988, S. 39.

[3] Jürgen Kaube, Die Anfänge von allem, Berlin 2017, S. 13.

[4] 1. Mose 1,11+12+21-25 von Pflanzen und Tieren, anders Vers 26-27 vom Menschen: „… zum Bilde Gottes schuf er ihn … als Mann und Frau.“

[5] „Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.“ 1. Mose 3,17-19.

[6] 1. Mose 1,31.

[7] 1. Mose 4,17-24.

[8] Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt: Ãœber den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. [Was bedeutet das alles?], Ditzingen 2018.

[9] 1. Mose 3,9+13.