Ãœber die babylonische Gefangenschaft des deutschen Protestantismus

Prof. D. Manfred GailusAm Freitag, 23. September 2016, hielt Professor Dr. Manfred Gailus (TU Berlin) im Rahmen von „Akademie Regional“ der Ev. Akademie Abt Jerusalem einen Vortrag zur Frage „Wie deutsch ist / war der deutsche Protestantismus?“ Im Anschluss entspann sich im Gemeindesaal unserer Gemeinde noch eine angeregte Diskussion.

Begrüßung und Vortrag als Audio-Datei (nach Anklicken bitte Geduld, verzögertes Abspielen)

Manuskript des Vortrages hier zum Download

Begrüßung und thematische Einführung durch Regionalstudienleiter Werner Busch (hier als Download)

Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlich willkommen zu einer weiteren Veranstaltung von „Akademie Regional“. Wir sind hier an St. Katharinen ein dezentraler Veranstaltungsorte der Ev. Akademie Abt Jerusalem neben anderen ähnlichen Orten in unserer Landeskirche. Unsere Gemeinde versteht sich u.a. wegen der Nähe zur Technischen Universität als einer derjenigen kirchlichen Orte, an denen der Diskurs über Fragen des Glaubens und Lebens und Themen der Zeit bewusst geführt werden soll. Als Gemeindepfarrer darf ich auch für den Kirchenvorstand sagen, dass wir die Zusammenarbeit mit der Akademie als Ansporn, Bereicherung und Unterstützung empfinden und uns gerne im Programm dieses Buschsogenannten Dritten Ortes einbringen. Und so kann ich Sie heute nicht nur als Katharinenpfarrer begrüßen, sondern darf Sie auch im Namen von Akademie-Direktor Dieter Rammler hier willkommen heißen.

Angeregt durch das Schwerpunktthema „Reformation und Eine Welt“ wenden wir uns heute bewusst einem Kontrapunkt zu. „Wie deutsch ist der Protestantismus in Deutschland?“ Die Frage nach nationaler Identität spielt derzeit in hitzigen politischen Debatten und in Wahlkämpfen bekanntlich eine besondere Rolle.

Diese Blickrichtung hin zur Frage, was denn „deutsch“ sei, vollzieht die evangelische Kirche allerdings nur wiederwillig und kritisch. Die alten Diskussionen um ein „Recht auf Heimat“ waren mit der Ostdenkschrift von 1965 vielleicht nicht gleich beendet, aber doch mindestens teilweise beantwortet worden. Wir müssen mit Gott und mit der Zeit gehen und auch unsere Identität dem Wandel aussetzen.

Im Blick über den Tellerrand, das darf man glaube ich sagen, sind wir in der Evangelischen Kirche inzwischen über Jahrzehnte durchaus geübt. Etwa die Kirchentage und verschiedene Denkschriften sowie andere Verlautbarungen der EKD haben das Bewusstsein dafür geschärft, dass viele Probleme nur im globalen Zusammenhang zu verstehen und zu lösen sind. Auf der EKD-Synode 2013 in Düsseldorf z.B. verabschiedete man eine Kundgebung zum Thema Welthunger bzw. Welternährung. Das Schwerpunktthema der gerade einige Monate zurückliegenden EKD-Synode im November 2015 in Bremen lautete „Reformationsjubiläum 2017 – christlicher Glaube in offener Gesellschaft“. Im Zeitalter der Globalisierung ist es dann auch stimmig, die Reformation als ein „Ereignis von Weltrang“ zu titulieren. Die Welt ist jedenfalls ein Dauerthema im evangelischen Glauben geworden. Man könnte meinen, dass das frische Wanderslied von Joseph von Eichendorf wie gemacht dafür ist, den heutigen evangelischen Spirit zu beschreiben. „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.“ Und wir wissen: Gott schickt uns nicht mehr als imperialistische Missionare in ferne Länder, noch nicht einmal mehr als selbstgefällige Almosengeber einer arroganten Entwicklungshilfe. Gott schickt uns als Partner zu Menschen in anderen Regionen und Kulturen unserer Welt. Und auch umgekehrt: Er schickt Menschen von dort zu uns. Sie kommen als Studenten, als Wissenschaftler, als Investoren, sie kommen als Flüchtlinge, sie kommen als Arbeitssuchende. Sie kommen.

Unser Land hat seine Grenzen geöffnet, die Sozialsysteme ebenfalls, und Kirchengemeinden öffnen ihre Gemeindehäuser. Auch hier an St. Katharinen tun wir das. Wir haben inzwischen drei verschiedene Gemeinden anderer Sprache und Herkunft in unserem Gemeindehaus regelmäßig und unregelmäßig zu Gast. Und erst am 4. September haben wir einen internationalen mehrsprachigen Gottesdienst gefeiert. Die eine Welt ist auch hier in St. Katharinen angekommen. Warum dann heute dieses scheinbar rückwärtsgewandte Thema?

Der Versuch einer kurzen Antwort kann bei einer Beobachtung einsetzen, die man schon seit einiger Zeit gerade in der großen weiten Welt der christlichen Ökumene machen kann. Der christliche Glaube inkulturiert sich. Er verwebt sich mit den Umständen und mit der Lebensart der Menschen einer bestimmten Region zu einer bestimmten Zeit, sagen wir: der christliche Glaube verwebt sich mit den Verhältnissen im Braunschweiger Land im 2. Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Es gibt den christlichen Glauben nicht abstrakt. Es gibt ihn nicht dogmatisch rein in einer quasi zeitlos gültigen Gestalt. Es gibt den christlichen Glauben immer nur in einer durch Zeit und Ort, durch Kultur und Geschichte mitbedingten Ausdrucksform. Was für russisch-orthodoxes Christsein, für angelikanische und andere teilweise auch amerikanische Christen viel weniger problematisch erscheint, ist im deutschen Protestantismus eine Problemzone. Nationale, ethnische Verwurzelung. So nennt sich die EKD „Evangelische Kirche in Deutschland“, und nicht „Evangelische Kirche Deutschlands“. Man bemüht sich hier um eine gewisse Indirektheit, jedenfalls was den kulturellen, nationalen, ethnischen Charakter unserer Kirche anbelangt. Wir sind keine „deutschen Christen“ mehr, auch keine deutsche Kirche, sondern eben nur „Christen und Kirche in Deutschland“. Da Inkulturation jedoch unausweichlich ist, – man kann gar nicht anders, mein Christsein wird immer eine regionale, eine milieubedingte und wahrscheinlich auch national oder ethnisch beeinflusste Tönung haben – da Inkulturation auch stattfindet, wenn sie unbewusst bleibt und gar nicht beachtet wird, – man bemerkt das eigentlich sehr schnell, wenn man mal die Gottesdienstformen unserer afrikanischen oder chinesischen oder syrischen Partner betrachtet … – da die Dynamik von Inkulturation auch uns evangelische Christen in Deutschland fest in ihrem Griff hat, ist es eigentlich notwendig, mit dem Nachdenken darüber wieder anzufangen. Und es nicht denen zu überlassen, die – wenn es hoch kommt – über Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ nicht hinausgelangen.

Die Tatsache, dass Sie heute hier sind, meine Damen und Herren, lässt mich vermuten, dass Sie auch der Meinung sind, das müsste man noch einmal oder weiterhin etwas genauer betrachten. „Wie deutsch ist der Protestantismus in Deutschland?“

Wir haben für dieses Thema einen ausgewiesenen Fachmann  gewinnen können. Ich begrüße herzlich Herrn Prof. Dr. Manfred Gailus. Er ist Historiker an der Technischen Universität in Berlin. Ich darf Ihnen, meine Damen und Herren, unseren Referenten kurz vorstellen.

Wie sturmfest und erdverwachsen der gebürtige Niedersache ist, lässt sich an seiner Vita nur schwer ablesen. Die Tatsache, dass Herr Gailus sein Studium im berühmt berüchtigten Jahr 1968 begann und er zunächst in Nürnberg und Düsseldorf sich den Bildenden Künsten widmete, lässt vielleicht ahnen, dass es ihn von Winsen an der Luhe in die damals sicher zurecht für groß und weit gehaltene Welt einer fränkischen bzw. einer rheinischen Metropole zog.

Nach drei Jahren betrat Herr Gailus noch einmal weiteres Neuland und entdeckte nun sein Fach, das ihn seither nicht mehr losgelassen hat. Anfang der 70er Jahre schrieb er sich als Student der Geschichtswissenschaft und der Politischen Wissenschaften in der Freien Universität Berlin ein. Berlin war gewiss – wenn auch auf engstem und in mehrfacher Hinsicht sehr begrenztem Raum, dadurch ab wohl umso intensiver – große weite Welt für einen Studenten in den 70er Jahren.

Nach dem 1. Staatsexamen setzte Herr Gailus seinen weiteren Weg als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Politische Wissenschaften fort und arbeitete nach seiner Promotion im Forschungsprojekt „Protestantismus und Nationalsozialismus“ mit. Das sollte fortan sein Hauptthema bleiben. Noch im letzten Jahrtausend erwarb er die  Habilitation und ist inzwischen applizierter Professor für Neuere Geschichte an der TU Berlin.

Zahlreiche Einzelforschungen aus dem weit verzweigten Gebiet „Protestantismus und Nationalsozialismus“ und die Mitherausgeberschaft mehrere Aufsatzbände zum Themenfeld Nationalprotestantischer Mentalitäten sind die Spuren seines wissenschaftlichen Weges. Gerade eben ist ein neuer Band erschienen, dessen Mitherausgeber Professor Dr. Gailus ist. In biographischen Studien werden völkische Theologen des Dritten Reiches vorgestellt, die den evangelischen Glauben – nicht ganz ohne Erfolg – seinerzeit in ein „Artgemäßes Christentum“ umzubilden versucht hatten, so deutet es der Titel schon an.[1] Mit diesem historischen Untergrund oder Hintergrund ringt der Protestantismus bis heute, und sei es in einer überschwänglichen Abkehr, die es gut vertragen würde, mit mehr Information und Verständnis der Vorgänge gepaart zu werden.

Im Misch- und Grenzbereich politischer Theologien, die die evangelischen Kirchen des 20. Jahrhunderts stark geprägt haben, widmet sich Professor Gailus der historischen Beschreibung und einer analysierenden Differenzierung. Dass es dabei nicht allein um vergangene Daten und Fakten geht, sondern auch um Mentalitätsgeschichte, die bis in die Gegenwart (nach-) wirkt, macht diese Betrachtungsperspektive, wie ich finde, besonders interessant.

Ich verspreche mir von Ihrem Vortrag, einen Teil meiner eigenen protestantischen Prägung besser zu verstehen. Im Anschluss können wir ins Gespräch kommen, um Fragen zu stellen, aber vielleicht auch, um darüber zu diskutieren, welche Fern- und Nachwirkungen das bis heute wohl hat und inwiefern unser Christsein und unser kirchliches Leben davon noch mitbestimmt sind.

In diesem Sinne: Wir sind gespannt auf Ihren Vortrag. Sie haben das Wort.

[1]  http://www.v-r.de/de/fuer_ein_artgemaesses_christentum_der_tat/t-1/1039363/.

 

Ankündigung der Veransstaltung:
Vortrag von Professor Dr. Manfred Gailus / Akademie Regional
Es ist kaum viel mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, seitdem am „Deutschen Wesen“ die Welt genesen sollte. Der Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts war ein wichtiger Faktor für die Ausprägung dieser Mentalität. Auf diesem Gebiet hat Professor Dr. Manfred Gailus intensiv geforscht und publiziert, erst in jüngster Zeit ist ein Aufsatzband über völkische Theologien im Dritten Reich erschienen. Der deutsche Protestantismus hat auf besondere Weise – mit teilweise geradezu euphorischer Religiosität – an dem Unheil mitgewirkt, das sich schließlich in zwei Weltkriegen manifestierte. Die innige Verbindung zwischen Kirche, Volk und Nation, Glaube und Nationalismus jener Jahrzehnte wird seit einiger Zeit als „Babylonische Gefangenschaft der Kirche“ bezeichnet. Die Anspielung auf Martin Luthers berühmte Reformationsschrift „Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ ist unüberhörbar. Aber ist das Problem mit dieser Diagnose schon überwunden? Im Themenjahr 2016 der Reformationsdekade blicken wir nicht nur auf „Die Eine Welt“. Anhand historischer Beispiele sucht der Vortrag Antworten auf Fragen: Welche Stärken und Schwächen hatte das nationalprotestantische Konzept? Welche unterschwelligen Konstanten und Nachwirkungen sind bis heute erkennbar?